Vertiefen - Ansichten im Wandel / Maria Magdalenen Kirche, Bad Bramstedt, Kreis Segeberg (c) JP

In dieser Vertiefung gehen wir der Frage nach, welche Funktion die prachtvollen Flügelretabel in der mittelalterlichen Religiosität besaßen, wie sie aufgebaut sind und was es mit ihrer Wandelbarkeit auf sich hat.
Zu dieser Vertiefung gibt es eine Broschüre, in der das Thema umfassender und ausführlicher dargestellt ist als in der Internetpräsentation. Sie können sie vollständig herunterladen oder kapitelweise. Hier geht es zur vollständigen Version: Ansichten im Wandel. Mittelalterliche Flügelretabel.
Ein besonderer Genuss: Sie können sich die Präsentation (PDF) auch vorlesen lassen. Prüfen Sie Ihre PDF-App (PC, Smartphone,Tablet) auf eine entsprechende Vorlesefunktion.

Vertiefen - Ansichten im Wandel / St. Petrikirche, Demern, Landkreis Nordwestmecklenburg (c) JP

Ein Retabel hat seinen Patz auf einem Altar. Es befindet sich also im liturgischen Zentrum der christlichen Kirche.

Die Tradition, große Bildtafeln auf einem Altar aufzustellen, setzte sich im späten Mittelalter durch und hielt sich bis ins 19. Jahrhundert hinein. Diese Bildtafeln, Retabel genannt, zeigten Reliefs und Tafelbilder mit Heiligenfiguren und Szenen aus der Bibel. Sie sind ein besonders prachtvoller Bestandteil der reichen Ausstattung eines Altars.
Retabel waren im Mittelalter in den Ablauf der Gottesdienste (Liturgie) einbezogen. Nach der Reformation verloren sie diese Bedeutung.

Für das Mittelalter sind in den großen Pfarrkirchen der Städte bis zu vierzig Altäre nachgewiesen. Jeder dieser Altäre war einem Heiligen geweiht. Er ist mit seiner Ausstattung und dem Bildprogramm seines Retabels auf das Kultprogramm der gesamten Kirche bezogen. Heute ist die Komplexität der Bezüge zwischen den einzelnen Altären im Kirchenraum und ihren Bildwerken kaum mehr zu erkennen. Die umfangreichen Ausstattungsensembles sind im Laufe der Jahrhunderte auseinandergerissen worden.

             

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Flügelretabel, Ev. Kirche, Garwitz, Landkreis Ludwigslust-Parchim (c) JP

Der Reformator Johannes Bugenhagen fand allerdings wenig schmeichelhafte Worte für die prächtigen Holzskulpturen, Tafelbilder und Altaraufsätze, welche die Kirchen schmückten. Er bezeichnete sie als „unnütze Klötze“ und nahm ihnen damit die Aura des Heiligen. Martin Luther wetterte in seinen Schriften gegen die Verehrung der Heiligen, die in seinen Augen durch den Bilderkult zum Abgerglauben gesteigert war.
Für die Menschen des Spätmittelalters besaßen Bilder eine große Bedeutung: Sie machten ihnen Inhalte des christlichen Glaubens anschaulich, halfen Gehörtes zu erinnern und repräsentierten die Heiligen. Bilder waren Bezugspunkte für die Anrufung der Heiligen, für Fürbitte und Gebet. Darüber hinaus boten sie eine Farbenpracht, die nirgendwo sonst zu sehen war.

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Kreuzigung Jesu, Flügelretabel, St. Peter und Pauls Kirche, Teterow, Landkreis Rostock (c) JP

Das Altarretabel befindet sich also am heiligsten Ort der christlichen Kirche - im Zentrum des christlichen Kultus. Es gehört zu diesem Ort. Es erweitert den Altartisch in die Höhe des Kirchenraumes hinein. Die Augen der Gottesdienstbesucher*innen sind auf dieses Zentrum und seine Bildtafel gerichtet.
Welche genaue Funktion die Retabel innerhalb der Liturgie der mittelalterlichen Gottesdienste besaßen, ist allerdings unklar. Es fehlen schriftliche Aufzeichnungen, etwa Anweisungen für die Geistlichen. Für die Spendung der Eucharistie (Altarsakrament) waren die Bildtafeln nicht erforderlich. Sie zeigen aber inhaltliche Bezüge zum Geschehen am Altar. Sie bilden einen erläuternden und kommentierenden Hintergrund für das Altarsakrament und die am Altar verehrten Reliquien.

Über die Eucharistie bzw. das Abendmahl, wie es in der evangelischen Kirche heißt, und ihre Bedeutung erfahren Sie mehr in der Broschüre Ansichten im Wandel. Sie können sich aber auch kurz und knapp hier informieren Mobiliar des Glaubens.

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Heiliger Georg, Flügelretabel, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vopommern-Rügen (c) JP

Die heute noch in den norddeutschen Dorf– und Stadtkirchen zu sehenden Flügelretabel stammen in der Regel nicht aus der Erbauungszeit der Gebäude. So wurde zum Beispiel die Kirche in Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen, Mitte des 13. Jahrhunderts erbaut. Aus dieser Zeit stammen nur noch die auf die Wände gemalten Weihekreuze. Das erhaltene Flügelretabel (an der Wand) wurde jedoch erst um 1530 gefertigt und in der Kirche aufgestellt. Welche Ausstattung mag der Altar zurzeit der Weihe der Kirche erhalten haben?
Das Bildprogramm des Flügelretabels lässt vermuten, dass die Kirche dem Heiligen Georg geweiht war: Zweimal ist der Heilige zu sehen: im Zentrum des Mittelschreins und auf der Außenseite des linken Flügels.
Das Kirchenpatrozinium hatte Konsequenzen für die Altarausstattung. Für die Verehrung des Heiligen Georg müssen entsprechende Bilder und Reliquien vorhanden gewesen sein, die in unterschiedlichen Festtagsliturgien inszeniert und präsentiert wurden.
Übrigens: Der Heilige Georg heißt im Norden Jürgen.

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Flügelretabel, Petrikirche, Demern, Landkreis Nordwestmecklenburg (c) JP

Die Bezeichnung Retabel kommt aus dem Lateinischen. Sie setzt sich aus den Worten retro (hinten, zurück) und tabolum (Tafel) zusammen. Der Begriff retrotabolum ist in schriftlichen Aufzeichnungen des Mittelalters zu finden. Er bezeichnet Bildtafeln, die auf oder hinter den Altären standen.
Meist wurden die Altaraufsätze als „tafel“ bezeichnet. Dabei wurde nicht unterschieden, ob es sich um gemalte oder geschnitzte Bildwerke handelte. Retabel waren dauerhaft auf den Altären platziert. Sie sind in Europa in unterschiedlicher Form und Funktion seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar.
Eine besondere Form des Retabels ist das Flügelretabel. Es trat im 14. Jahrhundert nördlich der Alpen seinen 'Siegeszug' an. Ausgehend von den Klosterkirchen 'eroberte' es nach und nach alle Kirchen und Altäre.

Möchten Sie weiterlesen? Hier können Sie die ersten beiden Kapitel der Broschüre Ansichten im Wandel. Mittelalterliche Flügelretabel, Kapitel 1 und 2 herunterladen.

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / vielfigurige Kreuzigungsszene, Flügelretabel, St. Michaelis-Kirche, Hohenaspe, Kreis Steinburg (c) JP

Norddeutsche Flügelretabel zeigen in der Regel auf der inneren Ansicht vergoldete Reliefs. Diese Ansicht wird häufig als Festtagsseite bezeichnet.
Im Zentrum des Mittelschreines sind die für die inhaltliche Aussage wichtigsten Figuren oder Szenen zu sehen. Sie sind häufig größer dargestellt als die umgebenden Figuren.
Die Festtagsseite war wahrscheinlich nur an den hohen kirchlichen Festtagen, wie etwa Weihnachten, Ostern und Pfingsten, aber auch am Tag der Himmelfahrt Mariens (15. August) zu sehen.
Im einigen katholischen Bundesländern ist der 15.08. ein gesetzlicher Feiertag, so im Saarland und Bayern.

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Kreuzigung Jesu, Detail, Flügelretabel, St. Peter und Pauls Kirche, Teterow, Landkreis Rostock (c) JP

Eine besondere Form des Flügelretabels ist das Doppelflügelretabel. Es hat insgesamt drei Ansichten. Die zweite Ansicht zeigt Tafelbilder. Diese Ansicht wird häufig als Sonntagsseite bezeichnet. In buntfarbigen Bildfolgen werden Heiligenlegenden oder biblische Geschichten anschaulich erzählt. Es sind meist Szenen aus der Lebensgeschichte Jesu oder seiner Mutter, Maria, zu sehen. Aber auch Szenen aus dem Leben der Heiligen, denen der Altar geweiht war, wurden in prachtvollen Tafelbildern dargestellt.
 

 

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Predella, Petrikirche, Demern, Landkreis Nordwestmecklenburg (c) JP

Um das Auf– und Zuklappen der oft sehr schweren Flügel zu erleichtern, erhielt das Retabel einen Unterbau, - die Predella  (auch „Sarg“ genannt).
Sie ist ein längsrechteckiger Holzkasten und außerordentlich praktisch: Durch sie erhebt sich das Retabel über das Niveau des Altartisches. Die Flügel können nun geklappt werden, ohne über die Oberfläche des Altares zu schrammen.
Manchmal sind kleine Türen an den Schmalseiten eingelassen, um die Predella als Aufbewahrungsort für Reliquien oder die Hostie (Oblate für Eucharistie/Abendmahl) nutzen zu können. Diese Predellen sind dann aufwendig mit vergitterten Fächern versehen.
Mittelalterliche Predellen haben sich nur selten erhalten. Meist wurden sie in späteren Jahrhunderten ersetzt.

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Flügelretabel, halb geschlossen, Georgskirche, Eixen, Landkreis Nordwestmecklenburg (c) JP

Der Klappmechanismus ist sicher das ungewöhnlichste Merkmal der Flügelretabel. Ein Bild auf– und zuklappen zu können widerspricht unserem modernem Verständnis eines Bildes, das an einer Wand aufgehängt oder als Skulptur im Raum aufgestellt werden kann. Das Klappen ermöglicht die Darstellung komplexer theologischer und religiöser Zusammenhänge zwischen den Ansichten, Skulpturen und Tafelbildern.

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Lesender Evangelist, Kanzel, St. Petri-Kirche, Bosau, Kreis Ostholstein (c) JP

Die Flügelretabel arbeiten mit den medialen Möglichkeiten des Buches: Der Vorlesende kann zwischen verschiedenen Ansichten und Seiten wählen. Jede Ansicht entspricht einem eigenen Kapitel mit einer bestimmten Bedeutung. Zwischen den Kapiteln kann gewechselt werden, so entstehen inhaltliche Bezüge, die über das lineare Lesen - von vorn bis hinten - hinausgehen.
Wie komplex das Verweissystem zwischen den verschiedenen Ansichten ist, hing vom Auftraggeber und dessen theologischem Verständnis ab. Für die Retabel in Norddeutschland lassen sich dazu leider kaum detaillierte Aussagen treffen, da die Tafelbilder der Flügelaußenseiten in den meisten Fällen zerstört sind.

Flügelretabel arbeiten mit dem Prinzip des Verbergens und Zeigens, der Vorbereitung und Erfüllung. Beides ist auch für die Aussetzung von Reliquien grundlegend. Diese Heiligtümer waren nur zu bestimmten Zeiten und im Rahmen besonderer Liturgien sichtbar.

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Flügelretabel, St. Peter und Pauls Kirche, Teterow, Landkreis Rostock (c) JP

Die Wandlungen der Flügelretabel wiederholten sich im Laufe des Kirchenjahres. Dem Glauben nach ereignen sich die Wiederholungen solange bis die Welt zu Ende geht und das Reich Gottes ersteht. Im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, wird dies beschrieben.
Die Vision des Reiches Gottes ist das Thema der Festtagsansicht. Es ist unvergänglich wie Gold und - vergleichbar mit dem geheimnisvollen warmen Eigenglanz des Goldes - nicht von dieser Welt.
Auf der Festtagsansicht zeigt sich die Gemeinschaft der Heiligen, die das Reich Gottes bewohnt. Zu dieser Gemeinschaft gehören biblische Figuren, christliche Märtyrer*innen, sozial engagierte Frauen und Männer, die tatsächlich gelebt haben, wie etwa die Heilige Elisabeth von Thüringen, aber auch legendäre Figuren wie der Heilige Georg, dessen Biografie in den Tiefen der Geschichte(n) verloren ging.

 

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Flügelretabel, St.-Petri-Kirche, Bosau, Kreis Ostholstein (c) JP

Die Offenbarung des Johannes ist das letzte Buch der Bibel. Es ist eine Vision über das Ende der Welt und den Beginn des Reiches Gottes. Das Buch ist angefüllt mit sprachlichen Bildern, die die Fantasie der Menschen von jeher beflügelten. Zu diesen Bildern gehört auch die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem: „Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm“ (Kapitel 21, Vers 23).
In diesem Sinn ist die Architektur der Kirchenräume ebenso wie die Darstellung von Kleinarchitekturen und architektonischen Elementen in den Retabeln ein Symbol für das neue, das himmlische Jerusalem.

Wenn Sie weiterlesen möchten, geht hier zu der Broschüre Ansichten im Wandel. Mittelalterliche Flügelretabel, Kapitel 3 und 4.

 

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Altaraufsatz, Marienkirche, Gudow, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Die vergoldeten Innenansichten der Flügelretabel rufen bei intakter Oberfläche den Eindruck einer massiven Goldtafel hervor. Zur Verzierung und Gliederung der vergoldeten Oberfläche wurden verschiedene Verzierungstechniken aus dem Gold– und Silberschmiedehandwerk verwendet.
Gold war in unterschiedlichen Kulturen der Welt der Darstellung des Heiligsten und der höchsten weltlichen Macht vorbehalten. Es symbolisiert das unbedingte Licht Gottes, das von einem Punkt ausgehend den gesamten Kosmos durchstrahlt und die Materie erschafft.

Möchten Sie mehr über die Technik der Vergoldung und ihrer Verzierungstechniken erfahren, lesen Sie hier weiter: Vertiefung Punzen, Beitel, Seelenheil. Kunst und Handwerk im späten Mittelalter oder ausführlicher Werktechniken in Geschichte und Gegenwart. Vergoldung.

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Flügelretabel, St. Johanniskirche, Malchin, Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (c) JP

Altaraufsätze sind materialreiche und technisch komplizierte Werke. Ihre Herstellung erforderte tiefgehende Kenntnisse der Holzbearbeitung, der Herstellung und Verarbeitung von Farben sowie der Vergoldung. Vor allem die Ausführung der großflächigen gravierten und vergoldeten Schreinrückwände war nicht zuletzt aufgrund der Verwendung von Blattgold ein aufwendiges und kostspieliges Unterfangen. Aber auch in der Fassmalerei (Bemalung) kamen teure Pigmente zur Anwendung. Diese waren zum Teil hochgiftig.
                      

Vertiefen - Ansichten im Wandel / St. Annen-Kirche, St. Annen, Kreis Nordfriesland (c) JP

Mit der Einführung der Reformation in Norddeutschland veränderten sich die Glaubensinhalte und Religionspraxis für die Menschen in den Gemeinden - und mit ihnen veränderten sich die Ausstattungen der Kirchen. Dieser Veränderungsprozess vollzog sich nicht plötzlich. Es war ein schleichender Prozess, in dem allmählich Ausstattungsstücke wie Skulpturen, Altaraufsätze und Wandmalereien gänzlich entfernt, übermalt oder umgearbeitet wurden. Neue Ausstattungsstücke wie Kanzeln, Orgeln und Emporen kamen hinzu.

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Flügelretabel, Johanneskirche, Wusterhusen, Landkreis Vorpommern-Greifswald (c) JP

Erstaunlich viele mittelalterliche Kirchenausstattungsstücke und Bildwerke haben diese Zeit des religiösen und politischen Umbruchs überstanden. Sie wurden häufig im Sinne des neuen evangelischen Bekenntnisses umgearbeitet. Die Suche nach einer neuen Bildsprache und nach neuen Bildformen führte zu einem Reichtum an verschiedenen Formen von Altaraufsätzen. Diese Suche dauerte viele Jahrzehnte. Im Grunde dauert sie heute noch an: So wie sich die Deutungsspielräume der biblischen Ereignisse über die Zeiten, Regionen und Konfessionen hinweg immer wieder veränderten, so verändern sich die Bildsprachen und Bildformen auch heute noch. In einer unendlichen Bewegung ordnen sich die Kirchenräume ihre Architektur und Ausstattung mit jeder Generation neu.

Möchten Sie noch tiefer eintauchen in die Welt der mittelalterlichen Flügelretabel? Hier geht es zu den letzten Kapiteln der Broschüre Ansichten im Wandel. Mittelalterliche Flügelretabel, Kapitel 5, 6 und 7 und weiterführende Literatur. Die vollständige Version der Broschüre finden Sie hier.

 

Vertiefen - Ansichten im Wandel / Trauernde Maria, Kreuzigungszene, Flügelretabel, St. Michaelis-Kirche, Hohenaspe (c) JP