Under cover - Spurensuche in Qualitz / Ev. Kirche, 18249 Qualitz, Landkreis Rostock (c) JP

Manchmal muss mensch schon genau hinsehen, um einen Schatz zu erkennen. So eine kleine Kostbarkeit ist in der Dorfkirche in Qualitz bei Bützow zu finden.

Eine braune Farbschicht legt sich wie ein unansehnliches dickes Tuch über eine Reihe von Holzskulpturen. Egal ob Hände, Gesichter oder Gewänder alles ist von dieser Schicht überdeckt. Einzig das Lendentuch des gekreuzigten Jesus und seine Dornenkrone heben sich in einem dunklen Braunton und in Grün von der einheitlichen Färbung ab.
Es sind insgesamt elf Figuren in unterschiedlichen Größen zu sehen. Ihre Gesichter wirken trotz der dicken Farbschicht ausdrucksstark.

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Dieses reizvolle Figurenensemble befindet sich heute in der Sakristei. Dieser kleine Raum diente einst dazu, dass sich der Priester/Pastor für den Gottesdienst umkleiden und vorbereiten konnte. Auch die kostbaren Altargeräte sind hier aufbewahrt worden. Heute ist sie ein reizvoller Andachtsraum.
Die Sakristei stammt wie die gesamte Kirche aus dem frühen 15. Jahrhundert. Für ihren Bau wurden Feldsteine und Backsteine verwendet.
Ursprünglich gehörten die Figuren nicht an diesen Ort. Sie haben bis zu ihrer heutigen Aufstellung einen gewundenen Weg durch die Geschichte genommen.

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Die einheitliche Farbe erzeugt den Eindruck, als würden die Figuren eine zusammengehörende Gruppe sein. Aber das täuscht. Die Figuren gehörten früher in verschiedene Altaraufsätze und wurden zu einem unbekannten Zeitpunkt neu zusammengestellt und übermalt. Das ist nicht ungewöhnlich - eher schon: üblich. Auf dieser Website finden sie zahlreiche Geschichten von mittelalterlichen Flügelretabeln, die übermalt, umgebaut oder gar auseinandergenommen und ihre Figuren neu zusammengesetzt worden sind. Das Besondere an den Qualitzer Figuren ist, dass sie uns zu einer detektivischen Arbeit einladen. Fangen wir an!

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Was ist zu sehen?
Ein querrechteckiger hölzerner Schrein mit zwei seitlichen Flügeln - ein Flügelretabel, wie wir es aus den norddeutschen Stadt- und Dorfkirchen kennen. In der Mitte eine Kreuzigungsszene mit Maria und Johannes. Jeweils rechts und links davon zwei Heiligenfiguren: Katharina ist zu sehen - mit dem zerbrochenen Rad und Barbara mit dem Turm, außerdem ein Bischof mit der charakteristischen Bischofsmütze und ein Apostel mit einem Buch in der Hand.
In einem schmalen Fach eine sogenannte Marienkrönung, flankiert von zwei sitzenden Heiligenfiguren. Diese Anordnung ist ungewöhnlich für ein mittelalterliches Flügelretabel. Die Figuren scheinen wie in einem 'Setzkasten' eingeordnet.

Wenn Sie mehr über eine Marienkrönung erfahren möchten, klicken Sie bitte hier.

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Die beige und braune Farbgebung ist eine Zutat einer späteren Zeit, in der die ursprüngliche mittelalterliche Vergoldung und die bunte Bemalung bereits großflächig abgeblättert waren oder als nicht mehr "schön" empfunden wurden. Eine einheitliche Farbgebung sollte her, die außerdem den Eindruck von Steinskulpturen erwecken sollte. Sandstein, Kalkstein, weißer Marmor das entsprach dem Schönheitsempfinden späterer Jahrhunderte.

 

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Für die zeitliche Einordnung von mittelalterlichen Skulpturen ist es wichtig, die Gesichtstypen, die Körperhaltung und die Gewandfalten eingehend zu betrachten und mit anderen Skulpturen zu vergleichen. So können wir ein 'früher' und ein 'später' und sogar genaue Zeiträume benennen, in den die Figuren entstanden sind. Hier in Qualitz müssen wir für den Vergleich nicht lange suchen. Die Figuren lassen sich untereinander vergleichen. Sie helfen uns, die Geschichte dieses eigenartigen Werkes zu verstehen.

Die Figuren des gekreuzigten Jesus, der Maria und des Johannes sind größer als alle anderen Figuren. Sie weichen im Körperbau, in der Art, wie die Gesichter gestaltet sind und in den Faltenwürfe ihrer Gewänder von den anderen Figuren ab. Sie wirken 'massiger', voluminöser als die anderen Figuren. Die Falten sind großflächiger. Die Stoffe wirken schwerer. Die Kreuzigungsszene wird auf die Jahre um 1490 datiert.

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Die anderen Figuren wirken dagegen zarter, schlanker. Der Bildschnitzer hat bei der Gestaltung der Gewänder auf verschiedene Faltenmotive zurückgegriffen: Wir finden Schüsselfalten - vor der Körpermitte parallel geführte Röhrenfalten, Faltenkaskaden an den Seiten. Die Gewänder scheinen da zu sein, um die Körper zu verhüllen und sie mit einem Ornament aus Falten zu umspielen.
Der Apostel unten rechts zeigt den typischen S-Schwung der gotischen Skulptur: Der Oberkörper ist leicht nach links gedreht, während die rechte Hüfte nach außen schwingt.

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Die größeren stehenden Figuren und auch die kleinen sitzenden Figürchen in dem unteren Fach gehören der Zeit um 1420 an. Möglicherweise gehörten sie zu dem Flügelretabel, das kurz nach Erbauung der Kirche auf dem Hochaltar der Kirche aufgestellt wurde.
Möglcherweise handelte es sich um ein Flügelretabel, in dem mehrere Heiligenfiguren in zwei oder gar drei Zeilen übereinander angeordnet waren. Die untere Zeile könnte die kleinen Figuren beherbergt haben.

Solche Altaraufsätze, in denen zahlreiche einzelne Heiligenfiguren aufgereiht in einer oder zwei Zeilen angeordnet sind, sind typisch für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts. Oft gruppieren sich die Figuren um eine zentrale Marienkrönungsszene.

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Eine Kirche besaß im Mittelalter nicht nur einen Altar, sondern mehrere. Aus einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1641 erfahren wir, dass in der Qualitzer Kirche zu diesem Zeitpunkt noch zwei alte Altäre (Altaraufsätze) gewesen sein sollen. Wie diese ausgesehen haben, erfahren wir nicht, aber wir dürfen vermuten, dass sie in keinem guten Zustand waren. Erst zwei Jahrhunderte später hören wir von dem Altaraufsatz, wie wir ihn heute vor uns sehen: zwei in eins.
Die einzelnen Figuren wurden zu einem unekannten Zeitpunkt neu zusammengestellt, vermutlich in dem hölzernen Schrein, der einmal die Kreuzigungsgruppe beherbergte (Kreuzigungsretabel). Der Schrein ist noch alt. Doch auch er wurde umgebaut: Er bekam neue Flügel - mit Gemäldetafeln statt mit Skulpturen. Seither sind Szenen aus der Leidensgeschichte Jesu dort zusehen und keine Heiligenfiguren mehr. Der Schrein bekam auch neue Zwischenbretter, um die Figuren ihren Größen entsprechend anzuordnen.

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Es war den Kirchenvorstehern offenbar sehr wichtig, dass die Altaraufsätze, die noch aus der Zeit vor der Reformation stammten, in welcher Gestalt auch immer die Zeiten überdauern. Es ist gelungen!

Im 19. Jahrhundert wurden zahllose Dorf- und Stadtkirchen umgebaut und neu ausgestattet. Die sogenannte Neugotik trug dazu bei, dass viele mittelalterliche Kirchenräume bis zur Unkenntlichkeit überformt wurden. Doch sie trug auch dazu bei, dass diese Orte erhalten blieben und dass mittelalterliche Architektur und Kunst einen hohen Stellenwert im Bewusstsein der Menschen erhielten.

Auch die Qualitzer Kirche wurde 1873/74 im Inneren umgestaltet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, als das neugotische Altargemälde auf dem Altar seinen Platz fand, wurde der alte Schrein mit seinen Figuren in die anliegende Sakristei verbracht.

Die Kontaktdaten der Kirchengemeinde finden Sie hier.

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