Grau-blaue Augen schauen uns an. Ruhig. Offen. Ein junges Gesicht, hochgewölbte Augenbrauen, eine gerade Nase, ein kleiner Mund.
Die Frau trägt die Haare aus der Stirn rasiert und unter der aufwendig gefalteten Haube verborgen.
Hinter ihr ist eine kleine Menschengruppe zu sehen. Von einem Nagel durchbohrte Füße ragen von oben in den Bildausschnitt. Die unbekannte junge Frau nimmt keine Notiz von dem, was dort geschieht. Sie hat ihre Hände zum Gebet zusammengelegt und sieht uns über die Jahrhunderte hinweg einfach nur an. - Jede(n) von uns, der die Kirche in Behlendorf betritt und ein Auge hat für sie.
Die Frau ist nicht allein. Ihr gegenüber kniet ein junger Mann mit dunklen Haaren und einem Spitzbart. Auch er ist im Stil der Zeit modisch gekleidet. Auch er trägt eine weiße Halskrause über einem schwarzen Gewand. Anders als bei der Frau ist das feine weiße Leinen bei ihm aber zweireihig in Schlaufen gelegt.
Solche Halskrausen, auch ironisch "Mühlsteine" genannt, waren lange Zeit der 'letzte Schrei'. Der Mode am spanischen Hof entlehnt, breiteten sie sich bis nach Norddeutschland aus und prägten die Kleidung der Adligen und wohlhabenden Bürger bis in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie wurden sogar zu einem Bestandteil der Amtstracht der Lübecker Ratsherren. In der Nordkirche wird die Halskrause heute noch von den Pastor*innen in Hamburg und Lübeck getragen.
Doch zurück zu dem jungen Mann: Er blickt wie die Frau mit erhobenen Händen tief in den Kirchenraum hinein - und jedem Menschen, der sich ihm zuwendet, geradewegs in die Augen. Er ist - oder besser gesagt war - Bernhard Brosius. Bürger zu Lübeck und Pächter des Gutes Behlendorf im Dorf Behlendorf.
Es sind Bernhard Brosius und seine Frau Catharina Warendorp, die auf dem Gemälde dargestellt sind. Sie gehörten zu den wohlhabenden Lübecker Bürgern und pachteten 1627 das Gut Behlendorf. Damit ist ihre Geschichte, soweit wir sie aus den erhaltenen Dokumenten herauslesen können, eigentlich auch schon zu Ende.Von den beiden ist uns kaum etwas bekannt. Wir wissen auch nicht ganz genau, ob die Darstellungen der beiden tatsächlich Porträts sind. Aber es ist zu vermuten.
Das Bild selbst gibt uns jedoch weitere Informationen: Die goldenen Inschrift im Bogen über dem Gemälde nennt die Namen der beiden. Die Wappen der Familien sind ganz oben am Aufsatz angebracht. In der Inschrift heißt es, dass Catharina Warendorp das Bild zum Gedächtnis ihres verstorbenen Mannes hat 'setzen' lassen. Das Todesdatum ist der 27.10.1634. Bei dem Gemälde in dem aufwendig gestalteten Rahmen handelt es sich also um ein Epitaph.
Epitaphien sind Gedächtnismale für Verstorbene. Sie waren vor allem im 16.-18. Jahrhundert weit verbreitet und schmückten die Wände, die Pfeiler und manchmal auch die Altäre der Kirchen.
Das Epitaph für Bernhard Brosius wurde auf den Altar der Kirche gesetzt. Es handelt sich um einen sogenannten Epitaphaltar. Die Erinnerung an Bernhard Brosius - und seine Frau - hat ihren Ort also mitten im gottesdienstlichen Geschehen. Alle Gottesdienstbesucher*innen waren einbezogen in das Gedenken. Das überrascht nicht, war Brosius doch der Pächter des Gutes und ein mächtiger Vertreter der Stadt Lübeck, zu dessen Gebiet Behlendorf seit dem 15. Jahrhundert gehörte.
Seine Frau Catharina entstammte einer einflussreichen und 'alten' Lübecker Familie. Die Warendorps kamen bereits im Mittelalter aus Westfalen in die Hansestadt. Angehörige dieser Familie prägten als Rats- und Domherren die Politik der Stadt.
Auf dem Dorf übernahmen sie offenbar die Rolle von Adligen, die in den Kirchen ihrer Ländereien das Patronatsrecht ausübten. Damit waren unter anderem die Instandhaltung und die Ausstattung der Kirchen verbunden.
Das Geld für diese Stiftung stammte aus dem Testament des Verstorbenen. Laut Inschrift auf dem Epitaph veranlasste seine Frau die Umsetzung des letzten Willens. Inwieweit sie die Form des Epitaphs mit der rundbogig abschließenden Gemäldetafel, den seitlichen Säulen und Figuren eigenhändig bestimmte, ist nicht bekannt. Beauftragte sie die Maler und Bildschnitzer? Traf sie Absprachen zu den Darstellungen und zur Farbigkeit? Bestimmte sie die Aufstellung des Epitaphs auf dem Altar? Was an diesem Bild trägt sozusagen die 'Handschrift' Catharina Warendorps? Wie sollen wir in ihrer Vorstellung - auch noch nach Jahrhunderten - sie und ihre Familie in Erinnerung behalten? Wie sollen wir sie sehen?
Das gesamte Epitaph, aber vor allem das mittlere Tafelbild mit dem Ehepaar, das betend in einer Szene der Kreuzigung Jesu kniet, bestimmt bis heute die Erinnerung an Bernhard Brosius und Catharina Warendorp. Es ist nicht viel von ihnen geblieben. Wir 'kennen' sie nicht. Aber das Bild ist sicher ein wirkungsvolles Zeugnis ihrer vergangenen Gegenwart.
Die Absichten der Stifter und der Stifterin, der Maler und Bildschnitzer sind über die Jahrhunderte hinweg nicht mehr eindeutig lesbar. Und: Unsere Erinnerungskultur hat sich verändert: Gedenktafeln für Verstorbene haben keinen Platz mehr auf den gottesdienstlich genutzten Altären - und schon gar nicht mit Porträts. Aber auch das Epitaph ist nicht mehr so, wie es ursprünglich gemalt und geschnitzt worden ist: Der Epitaphaltar ist in den Jahrhunderten seit seiner Entstehung immer mal wieder verändert worden. So wissen wir von einem grauen Anstrich, der die schönen Malerein eine Zeit lang überdeckte. Die alten Malereien sind schließlich wieder freigelegt und ergänzt worden. Wir wissen nicht genau, wie weitreichend diese Ergänzungen sind. Wir können aber erkennen, dass sich das untere Bild, das eine Szene des letzten Abendmahls Jesu mit seinen Begleitern zeigt, von der Malerei im Mittelfeld unterscheidet: Es ist viel bunter, die Figuren 'weicher' als die Szene darüber. Hier haben offenbar Maler des 19. Jahrhunderts Hand angelegt und das ursprüngliche Bild übermalt.
Ein Epitaph ist nicht mit einem Grab verbunden. Es ist ein reines Gedenk- und Erinnerungsmal. Im 16.-18. Jahrhundert sind die gemalten und geschnitzten Epitaphien mit ihren buntfarbigen Bildern, goldenen Verzierungen und aufwendigen Marmorimitationen ein beliebtes Ausstattungsstück für Kirchen.
Epitaphien sind auch nicht direkt mit dem christlichen Ritus verbunden. Sie besitzen keine Funktion im Gottesdienst oder bei der Spendung der Sakramente. Aber sie sind Ausdruck des tief empfundenen Glaubens seiner Stifter*innen an die Erlösung durch Jesus Christus und an die Kirche als den Ort des Trostes und der Hoffnung.
Und natürlich sind sie auch Demonstrationen von Macht und Reichtum: Das Epitaph für Bernhard Brosius und Catharina Warendorp erhielt seinen Platz auf dem Altar. Das Epitaph Johann Bilefelds, der bis zu seinem Tod 1640 Pastor in Behlendorf war, erhielt diesen Ehrenplatz nicht. Es befindet sich noch heute an der Nordwand des Chorraumes.
Von den einfachen Bewohnern des Ortes Behlendorf, den Bauern und Handwerker, den Hufnern und Tagelöhnern erfahren wir nichts. Sie besaßen weder das Geld noch die gesellschaftliche Stellung oder die Bildung eine solche Stiftung vornehmen zu können. Die Erinnerung an sie bleibt allzu oft reiner Zufall.
Das Stifterehepaar ist - wie so häufig auf Epitaphien - unter einer Kreuzigungsszene dargestellt. Die Arme des gekreuzigten Jesus sind wie zum Schutz über ihnen ausgebreitet. Um den toten Körper Jesu hat der Maler die dunkle Wolkendecke aufreißen lassen. In dem Wolkenloch und genau hinter dem Kreuz leuchtet das durch Strahlen symbolisiert Licht Gottes. Die Botschaft ist klar: Jesus hat den Tod überwunden. An diese Verheißung glauben auch die unter dem Kreuz Knienden. Ihre Haltung, ihre Aufmerksamkeit ist ganz auf dieses Ereignis, diese Hoffnung ausgerichtet. Ihr Blick geht in die Tiefe des Raumes, in die Ewigkeit. Was wir sehen, das sehen auch sie - vor sich und in sich. Ihr Blick nimmt uns mit.
Als weiteres Symbol der Hoffnung ragt hinter den Figuren je ein Baum auf. Es ist, als würde über ihnen der Baum des Lebens aufwachsen - über ihren Tod hinaus.
Über das Leben von Catharina Warendorp und Bernhard Brosius wissen wir wenig. Es ging im Unterholz der Geschichte verloren. Wir erkennen ihre Gesichter, nehmen ihren gesellschaftlichen Status wahr und erfahren etwas über ihre Hoffnung auf die Gnade Gottes - die Erlösung von Sünde und Tod.
Wir haben aber bisher wichtige Einzelheiten des Bildes nicht angesprochen, obwohl sie so deutlich sichtbar sind und so wichtig für das Leben dieser beiden Menschen: Vor Catharina Warendorp knien zwei kleine Mädchen - ihre Töchter. Neben ihnen ein Säugling, der, wie in dieser Zeit üblich, eng gewickelt und wie ein Paket verschnürt ist. Unsere Bezeichnung "wickeln" leitet sich aus dieser Praxis ab. Das Einwickeln des ganzen Säuglingskörpers geschah zum Schutz der Kinder. Sie konnten sich so an jeder Bewegung gehindert nicht selbst in Gefahr bringen.
Das Ehepaar hatte also drei Kinder. Offenbar lebte zum Zeitpunkt, als das Epitaph kurz nach 1634 gesetzt wurde, nur noch Catharina von Warendorp. Ihr Mann war im Oktober des Jahres verstorben und auch ihre Kinder waren nicht mehr am Leben. Sie tragen Kronen und Kränze auf den Köpfen. Ein solcher aufwendig aus versilberten Drähten und (Kunst-)Perlen hergestellter Kopfschmuck wurde verstorbenen Kindern und Ledigen ins Grab gegeben. Dieser Brauch spiegelt die große Bedeutung wider, die der Heirat in der Gesellschaft beigemesssen wurde. Die Kronen symbolisierten eine himmlische Hochzeit mit Jesus.
Das ganze Epitaph erzählt mehr von den Schmerzen der Kreuzigung als von der strahlenden Auferstehung, die sich anschließt. Die kleinen Engelchen, die den Architekturrahmen bevölkern, tragen die Leidenswerkzeuge der Kreuzigung: Nägel, der Hammer, mit dem die Nägel in den Körper Jesu eingeschlagen wurden, die Leiter, mit der Jesus vom Kreuz abgenommen wurde ... Rechts und links der Mitteltafel neben den rahmenden Säulen stehen zwei Skulpturen. Sie haben ihre Erkennungszeichen, ihre Attribute verloren. Doch es wird sich um Tugenden handeln.
Die christlichen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung und die vier Kardinaltugenden Mäßigung, Weisheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit gehören so zu sagen zur Grundausstattung der Epitaphien und Grabmäler. Schließlich erzählen sie von den - tatsächlichen oder auch nur erwünschten - positiven Eigenschaften des Verstorbenen.
In der frühen Neuzeit war die Kindersterblichkeit sehr hoch. Der Verlust eines Kindes und auch der Tod der Mutter im Kindbett oder bei einer schweren Geburt waren leider erwartbare Ereignisse. Der Tod begleitete die Menschen bei jedem Schritt und an jedem Tag. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben jenseits von Armut, Trauer, Krankheit, Schmerz, Krieg und Ungerechtigkeit tritt aus jedem dieser bildkünstlerischen Zeugnisse hervor.
Die Kirche in Behlendorf ist eine sehr alte Kirche. Als Johann Bildfeld hier Pastor war und das Ehepaar Brosius-Warendorp das Gut bewirtschaftete, hatten in ihren Mauern bereits Generationen von Gläubigen gebetet, gesungen, gehofft und sicher auch - gestritten. 400 Jahre lang hatten sie die Kirche erst auf- und dann umgebaut. Sie hatten sie ausgestattet mit all dem Mobilar, das für den Gottesdienst erforderlich und für die religiösen Bedürfnisse wünschenswert war. Sie haben die Wände und Gewölbe mit bunten Malereien geschmückt und sie wieder weiß übertüncht.
Was hat das Ehepaar Brosius-Warendorp von allen diesen Veränderungen wahrnehmen können? Was hatte sich in das kollektive Gedächtnis des Ortes damals schon eingeschrieben? - Wir können es nicht wissen. - Vermutlich aber hatten sie keine Kenntnis von dem eindrucksvollen Bild in der Gewölbekappe über dem Altar. Diese sogenannte Majestas Domini - die 'Herrlichkeit des Herrn' - stammt aus der Zeit um 1300. Als Catharina Warendorp das Epitaph für Ihren Mann setzen ließ, entsprach dieses Motiv schon lange nicht mehr dem Glaubensverständnis der (evangelischen) Christen vor Ort. Es dürfte bald nach der Einführung der Reformation 1531 oder auch schon früher übermalt worden sein.
Die mittelalterliche Ausmalung der Behlendorfer Kirche ist vielgestaltig und einzigartig. Was wir heute noch sehen, ist der Zeit abgerungen, konserviert, restauriert und wohl auch großzügig ergänzt.
Im nahegelegenen Mölln befinden sich in der St. Nicolai-Kirche noch etwas ältere Wandmalereien. Schauen Sie doch auch dort einmal vorbei.
Die Behlendorfer Kirche wurde in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts erbaut. Das Dorf dagegen ist etwas älter. Bereits 1194 wird eine Siedlung des gleichen Namens in einer bischöflichen Urkunde erwähnt. Von einer Kirche ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede.
Sie wurde als einschiffiger Bau mit einem sogenannten eingezogenen Kastenchor erbaut. Dies bedeutet, dass der Chor, also der östliche Bauteil der Kirche, etwas schmaler ist als das Langhaus. Schon von außen sind also diese beiden für die Gestaltung des Gottesdienstes wichtigen Räume der Kirche deutlich erkennbar: Im Chorraum steht der Altar. Hier hat nur der Geistliche Zugang. Die Gemeinde hält sich zum Gottesdienst im Langhaus auf.
Das Ehepaar Brosius-Warendorp hatte sicher ein eigenes, reich geschnitztes Gestühl im Kirchenraum, vielleicht sogar im Chor - in der Nähe des Altares. Für die Dorfbewohner aus Behlendorf und den zugeordneten Siedlungen gab es sicher einfachste Holzbänke, auf denen sie während der langen Gottesdienste saßen. Aber immerhin gehörten Kirchenbänke seit der Einführung der Reformation zum Inventar einer Kirche. Im Mittelalter standen die Menschen während der Messe.
Nicht nur der Epitaphaltar geht auf Pächterehepaar zurück, auch die prächtige Kanzel ist eine Stiftung der beiden. Eine rote Inschrift nennt das Jahr 1635 - das Todesjahr Bernhard Brosius. Die Kanzel wurde demnach zeitgleich mit dem Epitaphaltar gestiftet. Vielleicht stammt das Geld dafür auch aus dem Testament des Bernhard Brosius. Doch wir dürfen nicht zu voreilige Schlüsse ziehen! Die Farbigkeit oder besser gesagt die fehlende Farbe sollte uns aufmerksam machen: Üblich sind holzsichtige Werkstücke in der Zeit des Barock nicht. Schriftliche Aufzeichnungen berichten von zwei Anstrichen, die heute nicht mehr vorhanden sind. Die Vermutung liegt nahe: Die Kanzel zeigt nicht mehr ihre ursprüngliche Farbfassung. Sie wurde abgelaugt. Die Inschriften und auch die Bemalung der Wappen sind später hinzugefügt.
An der Kanzel hat sich eine Besonderheit erhalten, die uns einen Einblick gibt in die religiöse Lebenswelt der frühen Neuzeit: Eine viergläsrige Kanzeluhr. Jedes Glas zeigt 15 min an. Eine Predigt sollte nicht länger dauern als 4 x 15 min. Die Minuteneinheiten stehen für Abschnitte der Predigt. Ein frühes Beispiel für transparente Arbeitszeiterfassung ... Der Küster drehte zu Beginn eines jeden Predigtabschnitts das Uhrglas um und die Gemeinde konnte sehen, ob der Pastor sich an die Vorgabe hielt oder zu kurz oder eben auch zu lang predigte.