Die Dorf– und Stadtkirchen waren im späten Mittelalter mit einer unüberschaubaren Anzahl an Bildern unterschiedlicher Materialien und Größe ausgestattet. Es muss überwältigend gewesen sein inmitten dieser Form– und Farbenpracht zu stehen. Stetig kommen und gehen Menschen. Sie reden laut oder flüsternd miteinander. Die Gesänge und Rezitationen der Geistlichen, die die Messen an den Altären vollziehen, murmeln durch den Raum. Der Duft von Weihrauch durchzieht die Luft. Ebenso die Ausdünstungen der vielen Menschen. Es war was los in den Kirchen!
In den großen Stadtkirchen waren zu Beginn des 16. Jahrhunderts 40 Nebenaltäre keine Seltenheit. Jeder dieser Altäre war mit liturgischen Geräten (Kelch, Teller für die Oblaten), liturgischen Büchern, mit Altartüchern und mit mindestens einer Vikarie (Stelle eines Geistlichen, der die Messen liest und den Altar betreut) versehen.
In dieser Vertiefung geht es um die an der Herstellung der beeindruckenden Flügelretabel beteiligten Gewerke und ihrer Arbeitsorganisation. Im Folgenden lesen Sie einen Ausschnitt aus der Broschüre Punzen, Beitel, Seelenheil. Kunst und Handwerk im späten Mittelalter. Sie können sich die vollständige Broschüre herunterladen. Einzelne Kapitel zum Download finden Sie an den jeweiligen Stellen der Vertiefung.
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Den Menschen war kein materieller und finanzieller Aufwand zu hoch, um sich der Unterstützung und Fürsprache eines der zahllosen Heiligen zu versichern. Wer es sich leisten konnte stiftete Ausstattungsstücke für Altäre, für Kapellen– und Kirchenräume in unterschiedlichster Größe und Form zu Ehren der Heiligen.
Mit der materiellen Stiftung in Gold, Silber, Bronze, Stein oder Holz, als Glas– oder Wandmalerei schrieb sich der Stifter/die Stifterin in das Gedächtnis der nachfolgenden Generationen ein. Diese Bedürfnisse nach Memoria (Gedenken, Erinnern) und der Sicherung des Seelenheils füllten die Kirchenräume und sicherten verschiedensten Handwerkern ein Auskommen.
Im Mittelalter waren zahlreiche Werkstätten mit der Herstellung von Altarschreinen, Heiligenfiguren und Tafelbildern beschäftigt. Jedes Werkstück in einem Kirchenraum wurde von Händen bearbeitet, geformt, gestaltet. Jede dieser Hände besaß eine eigene Handschrift, folgte bestimmten Traditionen und gehörte zu einem Menschen, dessen Identität in den meisten Fällen unbekannt ist.
Die Finanzierung der Aufträge erfolgte in den Städten über Stiftungen von Gruppen oder Einzelpersonen. Hatte sich eine Gemeinschaft zum Beispiel eine Bruderschaft, dazu entschlossen, ein Retabel (Altaraufsatz) für ihren Altar in der Kirche zu stiften, musste Geld gesammelt werden. Dies konnte über Einzelspenden und Kollekten erfolgen, auch testamentarische Verfügungen spielten eine große Rolle. Die Koordination des 'Projektes', wie wir heute sagen würden, lag in der Verantwortung der Älterleute, des 'Vorstandes' der Bruderschaft.
In den Dorfkirchen übernahmen meist die ortsansässigen Adelsfamilien die Finanzierung der Kirchenausstattung. Sie besaßen das Patronatsrecht, das sie zur Pflege und Instandhaltung der Kirchen verpflichtete.
An der Fertigstellung eines Retabels waren mehrere Gewerke beteiligt. Sie alle trugen dazu bei, die Mysterien des christlichen Glaubens anschaulich zu machen. Diese Tätigkeit war eine sehr irdische handwerkliche Aufgabe. Sie wurde in Auftrag gegeben, durchgeführt und bezahlt. Sie musste organisiert und manchmal auch gerichtlich eingefordert werden.
Über die Koordination der Arbeitsabläufe sind wir nur wenig informiert. Offenbar gab es einen Hauptauftragnehmer, der den Gesamtauftrag abschloss und an die anderen notwendigen Gewerke Subaufträge vergab. In der Regel waren folgende Gewerke beteiligt: Kontormacher, Bildschnitzer, Fassmaler/Vergolder, Schmied.
Die Arbeitsteilung der Gewerke bei der Herstellung eines Flügelretabels hat sich im Laufe der Zeit herausgebildet. Die erforderlichen Arbeitsschritte passten sich an die Anforderungen an die Funktion und die medialen Möglichkeiten der Flügelretabel an.
Über den Aufbau und die Funktion eines Flügelretabel erfahren SIe mehr unter Ansichten im Wandel. Die Flügelretabel.
Der Kontormacher bekam die Maße des Schreins von dem Auftraggeber direkt oder über den Hauptauftragnehmer übermittelt. Auch wenn wir über die Einzelheiten der Auftragsvergabe und Arbeitsschritte nicht informiert sind, wird trotzdem deutlich, dass es zwischen den einzelnen an der Herstellung des Heiligenschreins beteiligten Gewerke eine enge Kommunikation über die Maße und die Binnengliederung des Schreines gegeben haben muss: Der Schrein wurde passgenau für den Aufstellungsort hergestellt und die Figuren mussten ebenso passgenau für den Schrein angefertigt werden. Kein Arm, keine Gewandfalte darf die Tiefe des Kastenrahmens überragen, sonst hätten die Flügel nicht geschlossen werden können.
Der Kontormacher lieferte das Flügelretabel in Einzelteilen: Kastenschrein, Kastenflügel, Schleierbretter für die Sockelzone, Baldachine und andere Einzelteile der 'Innenarchitektur'. Diese Teile mussten in der Werkstatt des Fassmalers noch bemalt werden, bevor sie zusammengesetzt werden konnten und die Figuren im neuen Schrein Platz fanden.
Der Tätigkeitsbereich der Kontormacher überschnitt sich, nach allem was wir aus den überlieferten schriftlichen Quellen wissen, mit den Bereichen der Kistenmacher, Schnitzer und der Zimmerleuten.
Anders als die Kistenmacher stellten die Kontormacher die bewegliche Schränke und Schreibtische allerdings mit verzierten Leisten her. Zusätzlich zu Säge und Hobel nutzten Sie Beitel als Werkzeuge. Die Fähigkeit filigranes Maßwerk zu schnitzen, zeichnete sie aus und ist ein wichtiges Gestaltungselement der Flügelretabel.
Der Kontormacher stellte also die Architektur des Flügelretabels her: Nischen, Pfeiler, Baldachine, Sockel sind seine Gestaltungselemente. Flügelretabel erinneren an gotische Kirchenbauten. Sie sind Häuser für die Heiligen.
Wie die Großarchitektur musste auch die Kleinarchitektur der Retabel den Prinzipien der Statik folgen: Die Stabilität des Flügelretabels muss gewährleistet sein - ganz besonders unter der Herausforderung des Auf-und Zuklappens der Kastenflügel. Der Kontormacher arbeitete daher mit den Kenntnissen des Möbelbauers. Wie sich die Möbelarchitektur im Laufe der Jahrhunderte wandelte, so wandelte sich auch die Konstruktion der Flügelretabel.
Die Schreinkästen und Kastenflügel wurden im Laufe der Zeit immer größer und schwerer. Um die Wende zum 15. Jahrhundert setzten sich daher zunehmend sogenannte Schwalbenschwanzverbindungen durch. Der trapezförmige Zapfen (Schwalbenschwanz) ermöglicht eine stabilere Eckverbindung des Kastenrahmens als die früheren Konstruktionen.
Möchten Sie weiterlesen? Hier können Sie sich die ersten Kapitel der Broschüre Punzen, Beitel, Seelenheil. Kunst und Handwerk herunterladen.
Waren die Absprachen zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer hinsichtlich der Maße und des Bildprogrammes getroffen, konnte auch der Bildschnitzer seine Arbeit beginnen. Er arbeitete in einer Werkstatt und benötigte bestimmte Werkzeuge und Vorrichtungen um die Holzblöcke bearbeiten zu können. Sein wichtigstes Werkezeug war der Beitel in unterschiedlichen Formen und Breiten.
Die Größe der Werkstätten, also die Anzahl der Mitarbeitenden, war in den Hansestädten unterschiedlich. Die Größe eine Maler/Bildschnitzer-Werkstatt lag in Lübeck bei einen Lehrling und maximal zwei Gesellen. Mit dieser Arbeitskraft ließ sich ein größerer Auftrag bewältigen oder auch mehrere kleinere. Allerdings ist auch bekannt, dass freie Handwerker zu größeren Aufträgen zeitweise herangezogen werden konnten.
Über die Arbeit der Bildschnitzer können Sie hier mehr erfahren Werktechniken in Geschichte und Gegenwart. Bildschnitzerei.
An den Bildwerken sind je nach Zeit und Ort unterschiedliche Schnitztechniken zu beobachten. Bei den Figuren aus dem Flügelretabel in St. Annen, Kreis Nordfriesland, aus der Zeit um 1390 wurden beispielsweise die Locken mit einem Hohlbeitel geschnitzt. Anhand der Kerbungen lässt sich die Breite der verwendeten Klingen bestimmen. In dieser Zeit wurden auch Bohrer verwendet und auch sogenannte, das sind Beitel mit einer dreieckige Klinge. Mit ihnen können einzelne Haarsträhnen ausgearbeitet werden.
Die Tradition einzelne Haarsträhnen auszuarbeiten ist gut an der etwa 130 Jahre später entstandenen Figur des Hl. Antonius aus dem Retabel in Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen zu erkennen. Auch die Form des Gesichts, Wangenknochen und die Augen sind detaillierter ausgeformt als bei dem älteren Apostel, - sogar die Augenlider sind geschnitzt.
Die Wandlung der Retabel - das Öffnen und Schließen der Flügel im Laufe des Kirchenjahres - folgte einer Hierarchie von außen nach innen: Die Festtagsseite ist die prunkvollste Ansicht der Flügelretabel. Ihre Farbigkeit wird vom Gold der Gewänder, der Hintergründe und Baldachine dominiert. Das Gold symbolisiert das göttliche Licht. Es ist das kostbarste im Mittelalter bekannte Metall und als Edelmetall nicht der Korrosion unterworfen. Außerdem besitzt es die Eigeschaft bei enormer Ausdünnung seine Stabilität nicht zu verlieren. Es eignet sich daher ausgezeichnet für die Veredlung von Oberflächen mit hauchdünnen Goldblattfolien.
Aus Gold und Edelsteinen ist nach christlicher Überlieferung das neue, das himmlische, Jerusalem gebaut. Diese Stadt wird im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, beschrieben und ist ein Bild für das Reich Gottes - Kapitel 21, Vers 1-27.
Die Arbeit eines Vergolders ist aufwendig. Sie besteht aus mehreren Arbeitsschritten und bedarf langer handwerklicher Erfahrung im Umgang mit den Materialien. Außerdem ist großes Geschick in der Handhabung der hauchdünnen Goldblätter gefragt. Folgende Arbeitsschritte sind für eine Vergoldung erforderlich:
- Aufbringen eines mehrschichtigen Kreidegrundes auf das Holz
- Markieren der Figurenumrisse
- ggf. gravieren von Mustern
- Aufbringen des Bolus (Tonerde)
- Auflegen des Blattgoldes
- Polieren der Oberfläche
- ggf. Verzierung der Oberfläche (Punzieren, Lüsterungen)
Möchten Sie zu den einzelnen Arbeitsschritten mehr erfahren? Hier geht es zu der Vertiefung Werktechniken in Geschichte und Gegenwart - Vergoldung.
Eine handwerklich perfekt ausgeführte Vergoldung imitiert die Oberfläche von massivem Gold. Ziel war es, die Illusion zu erzeugen, dass sich an den christlichen Festtagen vor den Augen des gläubigen Betrachters die Tore des himmlische Jerusalem öffnen.
In den Retabeln des 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts wirken die flachen Reliefs der Figuren wie aus dem Goldgrund herausgetrieben. Besonders deutlich ist dies in den sehr frühen Retabeln im Kloster Cismar in Schleswig-Holstein und in Bad Doberan, Landkreis Rostock, zu erkennen. Aber auch die späteren Schreine wie etwa das Kreuzigungsretabel in Demern (um 1400), Landkreis Nordwestmecklenburg, bewahren noch diesen Charakter.
Die Schnitzarbeit kann sehr differenziert und qualitätsvoll sein. Nach mittelalterlichem Verständnis ist es jedoch erst die Farbe, die die Skulpturen zu etwas Besonderem macht: Holz ist ein Naturmaterial und vergänglich. In einem ersten Schritt wird es durch den Bildschnitzer nach dem Bild der Heiligen geformt. Durch diesen Vorgang der Formung verliert es seine Naturgebundenheit. Doch erst die Farbe und das Gold verbergen das Material vollständig. Sie symbolisieren den Abglanz des göttlichen Lichts auf der Materie. Es sind also die Form, das Gold und die Farbe, die das Holz veredeln und es transzendieren (vergeistlichen).
Möchten Sie weiterlesen? Hier können Sie sich die passenden Kapitel der Broschüre Punzen, Beitel, Seelenheil. Kunst und Handwerk herunterladen.
Die Farben wurden in Schichten aufgetragen. Üblich war ein zwei- bis dreischichtiger Auftrag etwa bei Rot, Grün und Blau. Dabei wurden je nach zu erzielender Wirkung deckende und lasierende Schichten aufgetragen. Die Pigmente konnten in den Schichten verschieden sein. So wurde beispielsweise Krapplack (hergestellt aus der Pflanze Färberröte) lasierend auf einer deckenden Schicht aus Zinnober aufgetragen. Für blaue Partien wurde im späten Mittelalter Azurit verwendet. Es wurde oft über einer grauen Untermalung in zwei Schichten aufgetragen. Wenn Sie auf einem Tafelbild eine Marienfigur mit einem schwarzen Mantel sehen, dann liegt diese ungewöhnliche Farbgebung häufig daran, dass das Schwarz der grauen Untermalung im Laufe der Zeit durch die darüber liegende Schicht aus grobkörnigem Azurit 'durchgeschlagen' ist.
Die mittelalterlichen Farbfassungen haben aufgrund ihres schichtenweisen Aufbaus eine geheimnisvolle Tiefenwirkung.
Der Pinselduktus, die Farbkomposition und der Bildaufbau verraten viel über die Handschrift des Malers. Sie erlaubt manchmal eine Händescheidung und dadurch die Zuschreibung an einen Meister. Können diese Werke dann auch noch mit einer in schriftlichen Quellen genannten Person in direkten Zusammenhang gebracht werden, ist das Forscher*innengück perfekt. Dies sind jedoch seltene Fälle. In der Regel haben wir es mit verstreuten Einzelwerken zu tun, die sich zufällig über die Jahrhunderte hinweg erhalten haben. Diese Werke auf ihre Stilmerkmale und ihre Handwerkstechnik hin zu untersuchen, ist oftmals ein mühseliges und zeitaufwendiges Unterfangen. Und dennoch gelingt es immer wieder Werkgruppen zu identifizieren, die uns Aufschluss geben über die Arbeitsorganisation der Werkstätten, ihre Zusammenarbeit und ihre Reichweite.
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