Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Heilige und Apostel, Flügelretabel, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP

Aufgereiht — stehen die Figuren auf ihren Sockeln. Männer und Frauen. Unbeweglich. Ihr Blick starr nach vorn gerichtet. Wen schauen sie an?
Reihe um Reihe, Register um Register füllen sie die hölzernen Schreine auf den Altären. Sie tragen ihre Geschichten in sich. Wer sie sieht, weiß sie zu lesen. Wirklich? Vielleicht sollte es besser heißen: Wer sie sah, wusste sie zu lesen.
Diese stummen Figuren aus Holz geschnitzt und in Gold gekleidet, entstammen einer vergangenen Zeit. Sie sind Teil einer besonderen Art von Werkstücken, die für kultische Zwecke entstanden sind — die Flügelretabel (Flügelaltäre). Diese Schreine besaßen ein oder zwei Flügelpaare. Je nach Tag des Kirchenjahres konnte ihre Ansicht gewechselt werden. Zwischen 1300 und 1530 entstanden in den Ländern Mittel– und Nordeuropas eine Vielzahl dieser "Wandelaltäre“.

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Flügelretabel, St. Peter und Pauls Kirche, Teterow, Landkreis Rostock (c) JP

Angeordnet - Jede mittelalterliche Skulptur, ob aus Holz oder Stein, hat ihren Ort. Sie ist in eine übergeordnete Architektur eingebunden. Nie steht sie allein mitten im Raum, wie wir es etwa von modernen Skulpturen kennen. Sie braucht die ordnende Kraft der Architektur und die Bezüge zu anderen Figuren und Szenen, um ihre volle Bedeutung zu entfalten.
Die Architektur ist nach mittelalterlichem Verständnis ein Symbol für die göttliche Ordnung. Dieser Ordnung unterlag alles Gute auf der Welt, so auch die christliche Kirche.
Wie die Kirche, so folgte auch der Aufbau eines Flügelretabels einer Hierarchie. Die Bedeutung des dargestellten Motivs nimmt von außen nach innen und von unten nach oben zu. Die Abfolge der Figuren und Szenen in den Zeilen und Register sind stets sinnhaft geordnet - wie in einer Bildergeschichte.

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Flügelretabel, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP

Geheimer Rhythmus — Jede Figur und jede Szene ist von einem Baldachin überspannt. In der christlichen Bildsprache ist er ein Symbol für das Himmelsgewölbe. Obwohl die einzelnen Figuren in ihrem kleinen Gefach für sich allein stehen, stehen sie doch untereinander in Beziehung: Sie neigen ihre Köpfe, heben ihre Arme, drehen ihre Körper. Sie scheinen einem geheimnisvollen Rhythmus zu folgen - einem religiösen Tanz.
Die Körper der Heiligen verschwinden hinter den üppigen Faltenwürfen ihrer Gewänder. Diese Gewänder sind es, die der inneren Bewegung Ausdruck verleihen. Die mittelalterliche Skulptur ist eine Gewandskulptur. Erst an der Wende zur Renaissance gerät der menschliche Körper in den Fokus der Bildschnitzer und Maler. Dem neuen Menschenbild aus Italien folgend, wird vor allem der am Kreuz sterbende Christus als männliche Schönheit inszeniert.
Achten Sie zum Beispiel auf den nackten Oberkörper Christi, der in dem Flügelretabel in Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen, auf der Thronbank in der oberen Reihe links sitzt.

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Flügelretabel, halbgeschlossen, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP

Von Jungfrauen und Rittern — Die mittelalterlichen Kirchenräume sind bevölkert mit Heiligen. Sie waren streitbare Ritter und mutige Glaubenskämpfer*innen, Fürsorgende und bedeutende Theologen. Um sie ranken sich jahrhundertealte Legenden. Jeder Tag des (Kirchen-)Jahres ist dem Andenken an einen Heiligen gewidmet. Manche Heiligentage sind auch in der evangelischen Kirche geläufig, wie zum Beispiel der Nikolaustag, 06. Dezember, und der Martinstag, 11. November. Auf den Tafelbildern des Flügelretabels in Eixen sind rechts die Heilige Dorothea und der heilige Mauritius zu sehen. Ihre Gedenktage sind der 06. Februar bzw. der 22. September.
Heilige galten als Beschützer und Fürsprecher der Menschen. Es wurde erwartet, dass sie Maria, die Mutter Gottes, um Beistand für die Menschen baten. Auf den Heiligenscheinen der mittelalterlichen Heiligenfiguren sind häufig die Worte ora pro nobis - "bete für uns" zu lesen. — Die Angst vor einem strafenden Gott war allgegenwärtig.

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Altaraufsatz, Sockelzone, Ev. Kirche, Hallig Gröde, Kreis Nordfriesland (c) JP

Seelenheil und Andenken — Der verstorbene Hans Feddersen hat für das Retabel in der Kirche auf Hallig Gröde, Kreis Nordfriesland, viel Geld gestiftet. Doch nicht nur er, auch Peter Hansen, Schiffer von der Gröde hat finanziell dazu beigetragen, dass der Altar am Ende des 16. Jahrhunderts einen neuen Aufsatz bekam. „Zur Ehre Gottes und zur Zierde der Kirche“ so hieß es damals. - „Und für das Seelenheil und das Andenken der Stifter" können wir hinzufügen. Denn diese aufwendigen Stiftungen geschahen nicht uneigennützig: Auch nach knapp 500 Jahren werden wir durch die Inschriften an die „gute Tat“ der beiden Stifter erinnert. Der eine gab noch mit 'warmer Hand', der andere hatte offenbar in seinem Testament einen Geldbetrag für die Retabel-Stiftung festgelegt.
Dieses Vorgehen hat sich vom Mittelalter bis in die zu Neuzeit hinein nicht verändert. Auch wenn Hans Feddersen und Peter Hansen im evangelischen Herzogtum Schleswig, zu dem Gröde damals gehörte,nicht mehr fürchteten ewige Zeiten im Fegefeuer zu schmoren, so blieb doch die Sorge darum bestehen, nach dem Tod ins Paradies zu kommen.
Ebenso blieb das Bedürfnis im Haus Gottes für alle Besucher*innen als großzügiger Stifter sichtbar zu sein, eine wichtige Motivation für Geld- und Sachspenden an die Kirche.

 

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Eckverbindung eines Flügels, Flügelretabel, Maria Magdalenen Kirche, Bad Bramstedt, Kreis Segeberg (c) SauckeFoto

Ein Gehäuse — Die Figuren und ihre Geschichten sind in einen hölzernen Schrein verwahrt. Meist beachten wir ihn kaum. Er ist ja nur der Mittel zum Zweck: Er ist der Buchumschlag, der geöffnet und geschlossen wird. Doch wie auch ein Buch einfach oder aufwendig gestaltet sein kann, so unterscheiden sich auch die Kästen der Flügelretabel voneinander.
Sie können gewaltige Ausmaße annehmen und sich über mehrere Meter in die Breite und in die Höhe erstrecken. Sie können ein oder zwei Flügelpaare besitzen, auf denen sich Tafelbilder und Reliefs gerahmt von aufwendiger Ornamentik zu Bildergeschichten aneinanderreihen.
Die Ornamentik unterscheidet sich nach Zeit, Region und Werkstatt. Sie ist ein hilfreiches Instrument, um die Retabel zeitlich und geographisch und sogar einzelnen Werkstätten zuzuordnen.
Unter den Kisten- und Kontormachern gab es wahre Künstler, die virtuos mehrseitige Baldachine, gotische Gewölbe und herrliches Maßwerk aus Rankenwerk in die Innenarchitektur der Retabel hinein zauberten.

In der Vertiefung Punzen, Beitel, Seelenheil. Kunst und Handwerk im späten Mittelalter erfahren Sie mehr über den Aufbau der Flügelretabel.

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Heiliger Georg, Flügelretabel, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vopommern-Rügen (c) JP

Werkstoff — Für die zahlreichen Flügelretabel wurde im Norden vorwiegend das harte Eichenholz verarbeitet. Es ist schwerer zu schnitzen als das im Süden verwendete Lindenholz.
Die Amtsrolle des Amtes der Maler und Glaser in Lübeck schrieb die Verwendung von Eichholz für Skulpturen und Reliefs in Kirchen sogar verbindlich vor. Im übrigen Ostseeraum wurden jedoch auch andere Holzarten verwendet.
Leider sind nur wenige Schriftstücke erhalten, die Auskunft geben über die Werktechniken und Qualitätsstandards der mittelalterlichen Handwerker. Es sind vor allem die Werkstücke, die es uns ermöglich, den Meistern und Gesellen auf die 'Finger zu schauen'. Auf den Rückseiten der Werkstücke, unter abgeplatzten Malschichten und an Rissen und Ausbrüchen lassen sich die wertvollsten Erkenntnisse über die verwendeten Materialien und handwerklichen Techniken machen.

In der Vertiefung Werktechniken in Geschichte und Gegenwart. Bildschnitzerei  erfahren Sie mehr über Handwerkstechniken. Einen kurzen Einblick bekommen Sie hier Hands on! - Bildschnitzer.

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Sockelzone, Flügelretabel, Petrikirche, Demern, Landkreis Nordwestmecklenburg (c) JP

Goldene Schreine — Nicht immer ist das Maßwerk der Retabelarchitektur so fein geschnitzt wie hier in dem Retabel der Petrikirche in Demern, Landkreis Nordwestmecklenburg. Das eingelegte Glas schimmert auf dem buntfarbigen Untergrund (aus Papier) wie bunte Edelsteine, die in eine aufwendig ziselierte Goldschmiedearbeit eingelegt sind. Wie herrlich muss es ausgesehen haben als noch die gesamte Oberfläche vergoldet war! Doch der Zahn der Zeit nagt an allem und ganz besonders an den Holzarbeiten, die den klimatischen Schwankungen ihrer Umgebung täglich ausgesetzt sind.
Die Imitation von Goldschmiedearbeiten und die Anwendung von Techniken der Goldschmiedekunst ist bei den Retabeln auffällig. Sie sollen wie die kostbaren Reliquienschreine aus massivem Gold wirken. Dafür wurden Techniken wie das Punzieren oder Gravieren eingesetzt und durch Glaseinlagen der Eindruck von Edelsteineinlagen erweckt.
Heute sind die vergoldeten Oberflächen der Retabel meist großflächig zerstört. Aber es lohnt sich, die eigene Fantasie spielen zu lassen und sie vor dem inneren Auge wieder erstehen zu lassen.

In der Vertiefung Werktechniken in Geschichte und Gegenwart. Vergoldung - Verzierungstechniken erfahren Sie mehr über diese Handwerktechniken. Einen kurzen Einblick erhalten Sie hier Hands on! - Maler und Vergolder

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Scharnier, nachreformatorisches Flügelretabel, Marienkirche, Heiligenstedten, Kreis Steinburg (c) JP

Verkannt — Noch weniger als die Arbeit der Kisten- und Kontormacher wird die Arbeit der Schmiede beachtet. Sie hatten jedoch einen gewichtigen Anteil an dem Bau der Flügelretabel. Wie hätten die oft mehrere Zentner schweren Flügel geöffnet und geschlossen werden können, wenn sie nicht mit passgenauen, stabilen und leichtgängigen Scharnieren versehen gewesen wären?
Diese Steckscharniere sind auch bei den späten Flügelretabeln gebräuchlich, die noch nach der Einführung der Reformation vereinzelt entstehen, wie hier in Heiligenstedten, Kreis Steinburg.
Die Arbeit von Schmieden war auch erforderlich, um die Überfallbügel der Retabelverschlüsse herzustellen. Man wollte nicht Gefahr laufen, dass sich die Flügel unbeabsichtigt durch ihr eigenes Gesicht öffneten oder das Diebe sich bei den Figuren bedienten. Für manche Retabel sind sogar Schlösser nachgewiesen.

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Kanzelaltar und Flügelretabel, Ev. Kirche, Cölpin, Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (c) JP

Was übrig blieb — Nach der Einführung der Reformation sah man in den Skulpturen und Altaraufsätzen nur noch „unnütze Klötze“. Sie waren gut zum Heizen - Eiche ist ein guter Energiespeicher, - aber ungeeignet für die neuen, evangelischen, Gottesdienste. Die Begegnung mit Gott geschieht nun ausschließlich im Gebet und in den zwei Sakramenten Taufe und Abendmahl. Das Wort wird in der Verküdigung der christlichen Botschaft wichtiger als das Bild. 
Zahlreiche Holzbildwerke gingen für immer verloren. Andere überdauerten bis heute in ihren Kirchen, wie dieses Retabel in der Kirche in Cölpin, Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Es zeigt eine Madonna im Strahlenkranz zwischen Heiligen. Das Bildprogramm ist Ausdruck der tiefverwurzelten Marienverehrung des späten Mittelalters. Die Patrone der Cölpiner Kirche, die Familie Dewitz, bewahrten das Werk über die Reformation hinweg, versahen es im 18. Jahrhundert mit einer neuen Predella, bemalten es bunt und geben ihm einen neuen Ort. Es hängt nun hinter dem klassizistischen Kanzelaltar und bildet den Hintergrund für die auf der Kanzel predigende Pastor*in. - Traditionspflege in der frühen Neuzeit.

 

Einsteigen - Mittelalterliche Glanzstücke / Apostel, Flügelretabel, St. Annen-Kirche, St. Annen, Kreis Dithmarschen (c) JP