So war das eigentlich nicht gedacht: Den Bildern kam ursprünglich niemand so nahe, dass der dicke Farbauftrag sichtbar war. Die einzelnen Pinselstriche in dunklen und hellen Tönen, Einkerbungen der Metallpunzen in die Goldoberfläche, die Schnitte des Graviermessers - das war Sache der Maler und Vergolder, der Meister, Gesellen und Lehrlinge. Sie mussten ihr Handwerk verstehen. Die Betrachtenden hatten für Detailansichten keinen Blick - und keine Gelegenheit.
Der Blick ins Detail ist ein moderner Blick. Er wird möglich durch Ferngläser, durch Kameras und natürlich durch die Fragen, die wir heute an Kunst stellen: Was ist dargestellt, aber auch: Wie wirken diese Bilder? Wodurch wirken sie? Welche Materialien wurden verwendet? Wer hat sie gemalt und wann? Da ist der Blick auf die Bildoberfläche hilfreich. Sie offenbart die Handschrift der Maler*in: Die Pinselführung, Konsistenz der Farbe und ihr Auftrag, das handwerkliche Können und die künstlerische Absicht.
Für die Betrachtenden früherer Jahrhunderte spielten diese Fragen keine Rolle. Wer die Maler waren, welche handwerklichen Techniken, Bindemittel, Handwerkzeuge sie verwendeten, das war nicht wichtig. - Allenfalls die verwendeten Farbpigmente konnten vertraglich festgelegt werden, denn bei ihnen gab es erhebliche preisliche Unterschiede. - Die Bilder schilderten wahre Ereignisse aus dem Leben Jesu und der Heiligen, sie veranschaulichten Glaubenssätze. Sie waren Leitbilder für den Glauben, Bezugspunkte für Gebete und Ausblicke in das Reich Gottes.
Die Tafelbilder blieben auf Abstand. Die feinen Muster auf den Gewändern, die kleine Pflanzen, Einzelheiten der dargestellten Architektur, alles das, was unseren modernen Blick begeistert, war für die meisten Menschen nicht sichtbar. Es war schlichtweg zu weit weg. Und: In den Kirchenräumen war es zu dunkel! Aber das machte nichts! Die Geschichte im Bild war wichtig. In ihr waren die Heiligkeit der Personen und die göttliche Botschaft geborgen. Sie offenbarten sich im Reichtum der Farben und den Gesten der Figuren.
Das nahe Auge ist - distanzlos. Es übergeht die religiöse Aussage der Malerei. Es fokussiert Dinge, die ursprünglich nicht sichtbar sein sollten und sichtbar sein mussten.
Im Detail fasziniert die Haut des gekreuzigten Jesus, der Blutstrom, der den Unterarm entlang läuft - ihre Ästhetik. Die mitleidende Versenkung in das Geschehen tritt in den Hintergrund.
Im früheren Jahrhunderten gab es einen Personenkreis, dem die Bilder stets nah vor Augen standen. Die Geistlichen. Die Priester/Pastoren und ihre Helfer in den Gottesdiensten, sie kamen unmittelbar mit den Bildern in Berührung. Wenn die schweren Flügel der Altaraufsätze geöffnet oder geschlossen wurden 'packten' sie mit an. Während der Messe stand der Priester unmittelbar vor den Tafelbildern der Flügelretabel. Sie sahen die Details - die Schuhe der dargestellten Heiligen, die gewundenen Stricke der Geißeln, mit denen Jesus gefoltert wurde, und das mal mehr mal weniger gut gemalte Gesicht des gekreuzigten Jesus.
Was mögen sie über die handwerklichen Fähigkeiten der Maler gedacht haben? Hatte der eine oder andere von ihnen einen Blick für die Ästhetik der schichtenweise aufgetragenen Farben? Für die plastische Gestaltung von Gewandfalten und die Modellierung von Gesichtern? Ob sich jemand mal darüber geärgert hat, wenn eine Heiligenfigur einem Maler nicht gelungen war?
Haben die Geistlichen wahrgenommen, dass der Maler in diesem Bild der Heiligen Dorothea eine neuartige Malerei aus dem Süden Deutschlands in den Norden übertrug? Er malte eine farbig differenzierte, stimmungsvolle Landschaft mit schneebedeckten Bergen, die zum Horizont hin 'verblaut'. Diese Luftperspektive ist eine malerische Errungenschaft, die in der Zeit nach 1500 nach und nach die Flügelretabel erobert.
Leider haben sich keine schriftlichen Aufzeichnungen erhalten, die uns erzählen könnten wie ein einfacher Geistlicher in einer der zahlreichen Dorf- und Stadtkirche, eine Bürger*in, eine Adlige* oder gar eine Bäuer*in die Malereien oder Schnitzereien in ihren Kirchen wahrgenommen haben. Es gab solche Aufzeichnungen sicher auch nicht. Wofür auch? Das Bild einer heiligen Dorothea erfüllte eine Funktion, ebenso wie das Bild einer Maria. Es war nicht wichtig, wie sie aussahen. Es war nicht wichtig, was einzelne Menschen darüber dachten. Die Anwesenheit der Heiligen in den Bildern war entscheidet.
Erst an der Wende zum 16. Jahrhundert wird eine Reflextion über künstlerische Fähigkeiten von Malern sichtbar. Sie sind Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses von Künstlern in der Renaissance.
Die Bildschnitzer und Maler übten ihr Handwerk aus, dafür wurden sie bezahlt. Ihre künstlerische Leistung war zweitrangig. Und doch hat eine original erhaltene mittelalterliche Malerei auf einer Skulptur, einem Relief eine Qualität, eine Feinheit, die heute noch begeistert, egal wie stark abgeblättert sie ist.
Meist sind es die Übermalungen späterer Jahrhunderte, die die Figuren "beschädigen". Dick aufgetragene, bunte, oftmals stumpfe Farben beeinträchtigen die Wirkung der alten Werkstücke. Doch diese Übermalungen haben eine wichtige Funktion erfüllt: Sie trugen dazu bei, dass die Retabel, Tafelbilder und Skulpturen erhalten blieben. Spätere Generationen eigneten sich die Werke an und pflegten sie nach besten Wissen und Gewissen - mit ihren handwerklichen Techniken und ihrem handwerklichen Können.
Fast alle Tafelbilder und Skulpturen des Mittelalters, denen wir heute in den Dorf- und Stadtkirche begegnen, sind irgendwann einmal im Laufe ihrer Werkgeschichte verändert worden. Die Skulpturen wurden übermalt. Ihr Holzkern und damit die Schnitzarbeit blieb erhalten. Mittelalterliche Tafelbilder haben sich nur in wenigen Fällen vor Ort erhalten. Sie wurden häufig nicht übermalt, sondern vollständig entfernt. Dann wurde eine neue Malerei aufgebracht: Erst eine Grundierung zur Isolierung der Holztafel, dann die Farbschichten - je nach Maltradition der jeweiligen Zeit. In der Regel besitzen die nachmittelalterlichen Tafelbilder nur einen dünnen Kreidegrund. Dies führt dazu, dass manchmal die angeschliffenen, geöffneten Gefäße des Holzes sichtbar sind.
Oft wurden dunkle Grundierungen verwendet. Dies entsprach dem Schönheitsempfinden etwa des 17. Jahrhundert. Diese Bilder wirken dann so, als würden die Farben im Holz 'versacken'.
Nicht nur die Altaraufsätze, ihre Bildtafeln und Skulpturen waren bemalt. Eigentlich gab es über Jahrhunderte im gesamten Kirchenraum kein Werkstück, das nicht mit Ornamenten oder figürlichen Bildern verziert war. Überall wurde die christliche Botschaft verkündet - in Wort und Bild: auf den Kanzeln, an den Emporenbrüstungen, auf Taufbecken, an den Wänden. Jede Epoche fand ihren eigenen künstlerischen Ausdruck. Und der entsprach oft nicht dem der vorherigen. Um nicht gleich das ganze Werkstück zum Beispiel eine Kanzel entfernen zu müssen, hat man es eben großzügig übermalt.
Es ist eine wunderbare Aufgabe der Restauratoren, diesen verborgenen Bilder nachzuspüren. Wie hier an der Kanzel der ev. Kirche in Laase, Landkreis Rostock. Unter dem grauen Anstrich tritt in dem Probefenster eine üppige Bemalung mit Rankenwerk hervor. Nun können wir uns mit etwas Fantasie vorstellen, wie diese Kanzel früher einmal ausgesehen hat.