In alten Kirchen sind sie fast immer zu finden - Altaraufsätze. Das sind große und kleine Bildtafeln mit gemalten oder geschnitzten Figuren, mit und ohne drehbare Flügel, prachtvoll vergoldet, quietschbunt oder holzsichtig. Sie stehen im Zentrum des Kirchenraumes - auf dem Altar. Ihre Bildsprache, ihre Formen, ihre Farben weisen weit zurück in die Vergangenheit.
Sie sind alle unterschiedlich und haben doch etwas gemeinsam: Sie tragen heute noch die Spuren der Hände und der Werkzeuge, die sie vor Jahrhunderten schufen und veränderten. Dafür braucht es nur eines: einen Perspektivwechsel. Kommen Sie mit! Schauen Sie aus einem anderen Blickwinkel auf diese Zeugen der Vergangenheit.
Sie ziehen die Blicke der Menschen auf sich. Der Weg durch die Kirchenräume führt direkt auf sie zu - die Altäre. Mittelpunkte jeder christlichen Kirche. Die Bildtafeln auf ihnen jedoch sind nur Beiwerk. Der Reformator Johannes Bugenhagen nannte sie gar "unnütze Klötze".
Doch bevor die reformatorische Bewegung die Notwendigkeit dieser prachtvollen Altaraufsätze bestritt, waren sie jahrhundertelang ein lukratives Geschäft für Tischler, Bildschnitzer und Maler. Vor allem im Mittelalter florierte die Produktion dieser hölzernen, bunt bemalten Bildtafeln. In Lübeck, der 'Kunstmetropole' produzierten die Werkstätten für Auftraggeber im gesamten Ostseeraum.
Bei der Produktion eines Altaraufsatzes spielte der Tischler (Kontormacher) eine wahrhaft 'tragende' Rolle. In seiner Verantwortung lag es, einen stabilen Kasten zu bauen, der die zahlreichen Figuren in sich aufnehmen konnte. Der 'Standard'-Aufsatz des späten Mittelalters bestand jedoch nicht nur aus einem Kasten (Mittelschrein), sondern besaß mindestens ein oder sogar zwei Flügelpaare auf jeder Seite. Das innere dieser Flügelpaare war ebenfalls ein Kasten, in den Holzfiguren eingestellt wurden. Die Außenflügel waren in der Regel gerahmte flache Tafeln.
Bei solchen kleineren Altaraufsätzen wie hier in der St. Annen-Kirche in St. Annen, Kreis Dithmarschen, war die Aufgabe des Tischlers sicher überschaubar. Eine echte Herausforderung dürfte es gewesen sein, Mittelschreine und Flügel zu konstruieren, die zusammen bis zu neun Meter breit waren, wie zum Beispiel beim Georgenretabel in der St. Nikolai-Kirche in Wismar.
Diese auf- und zuklappbaren Kästen wurden in den mittelalterlichen Aufzeichnungen tafeln genannt, auf Lateinisch tabulum. Häufig findet sich der Zusatz retro tabulum. Damit ist die Tafel gemeint, die hinten auf dem Altar steht. Die kunsthistorische Forschung hat diesen Begriff aufgenommen und spricht von Retabeln.
Ein eindruckvolles Beispiel für ein Flügelretabel, an dem die einzelnen Holzteile, aus denen es besteht, sichtbar ist und auch die Art, wie diese Einzelteile zusammengesetzt worden sind, ist das Flügelretabel in der St.-Petri-Kirche in Bosau, Kreis Plön. Es stammt aus der Mitte des 14. Jahrhunderts und ist damit eines der ältesten Flügelretabel in Norddeutschland. Im Laufe seiner wechselvollen Geschichte hat es seine Fassung, das heißt seine Bemalung verloren. Dadurch liegt für uns die Arbeit der Tischlerwerkstatt nun offen zu Tage.
Die Tischerwerkstätten bearbeiteten das Holz mit den auch heute noch üblichen Werkzeugen. Dieser zeitgenössische Werkzeugkasten stammt von einem Tafelbild auf dem Flügelretabel in der St. Peter und Pauls Kirche in Teterow, Landkreis Rostock. Es zeigt, wie Jesus von zwei Männern an das Kreuz genagelt wird. Der Werkzeugkasten gehört einem der beiden Handwerker, die mit Hammer und Nägeln ihrer grausigen Arbeit nachgehen. Einer von ihnen (links im Bild) trägt sogar die Tracht der Henker (rotes Gewand, grüne Gugel), ein anderer eine Arbeitsschürze aus Leder.
Für die Produktion von Retabeln und Heiligenbildern wurde in Norddeutschland in der Regel Eichenholz verwendet. Es ist sehr witterungsbeständig und besonders widerstandsfähig gegen den Befall von Holzwürmern. Durch die rege Bautätigkeit in den aufsteigenden Hansestädten (das Brennen von Backsteinen) sowie den Schiffbau war das heimische Eichenholz allerdings knapp geworden. Es wurde daher per Schiff aus dem Baltikum angeliefert. Dieses sogenannte wagenschott gesägte Holz wurde als Bohlen oder Bretter weiterverkauft. Das Wagenschott wurde für die Rahmen der Kastenflügel und für die Rückwände gesägt, abgebeilt und gehobelt.
Es waren vor allem die Eckverbindungen, die über die Stabilität der Mittelschreine und Kastenflügel entschieden. Im 14. Jahrhunderte waren sogenannte Überblattungen und Eckverbindungen, bei denen die Hölzer im rechten Winkel aufeinanderstießen (auf Stoß) wie hier in der Petrikirche in Demern, Landkreis Nordwestmecklenburg, weit verbreitet. Ein Holzdübel sicherte diese Verbindung.
Die Konstruktion der Retabel änderte sich zum 15. Jahrhundert hin. Die alten Eckverbindungen konnten das zunehmenden Gewicht der immer größer und schwerer werdenden Flügelretabel nicht mehr zuverlässig halten. Es entstanden sogenannte Schwalbenschwanzverbindungen, bei denen die Rahmenhölzer mit trapezförmigen Zapfen miteinander verzahnt wurden. Schwalbenschwanzverbindungen können ein höheres Gewicht halten. Überblattungen wurden nur noch für die flachen Außenflügel angewendet.
Doch nicht nur die Eckverbindungen forderten von den Handwerkern jahrelange Erfahrung und innovative Leistungen, um die Wünsche der Auftraggeber nach einem haltbaren, modernen und repräsentativen Flügelretabel im Kirchenraum zu erfüllen. Auch die Scharniere waren von großer Bedeutung. Die Flügelretabel konnten erst dann ihrer Aufgabe im Rahmen der unzähligen Gottesdienste im Verlauf des Kirchenjahres gerecht werden, wenn die manchmal zentnerschweren Flügel geöffnet und geschlossen werden konnten. Dies ermöglichten die unscheinbaren und meist von den Betrachtern übersehenen Scharniere. Sie wurden als Auftragsarbeiten geschmiedet. Ihr im wahresten Sinne des Wortes reibungsloses Funktionieren und ihre feste Anbringung an Schrein und Kastenflügeln war die Grundlage für den feierlichen Vollzug der heiligen Messe.
Die Herstellung der Mittelschreine und Flügel für ein Retabel erschöpfte sich jedoch nicht nur in der statisch korrekten Konstruktion und Umsetzung von stabilen Eckverbindungen. Es ist oben schon angeklungen, dass der Tischler mit der Gestaltung von Profilen den Retabelkasten aufwertete. Doch nicht nur das. In seiner Werkstatt entstand auch die gesamte Innenarchitektur des Flügelretabels: Baldachine und Schleierbretter, Strebepfeiler, Zwischenbretter, Sockelzonen und bekrönende Kreuzblumenkämme.