Flügelretabel, Maria Magdalenen-Kirche, Bad Bramstedt, Kreis Segeberg (c) SauckeFoto

Sie ist in vielen Dorf- und Stadtkirchen zu finden - in erstaunlich vielen. Hoch oben auf den Altären steht sie. Für alle Kirchenbesucher*innen sichtbar: goldglänzend, bunt bemalt oder bis auf das Holz abgelaugt. Umgeben von einer Menschenmenge - sorgfältig geordnet in Reihen und Spalten. Sie ist eine der ältesten und am weitesten verbreiteten Darstellungen religiöser Kunst des späten Mittelalters. Und sie ist sicher eines der rätselhaftesten Motive: Die Marienkrönung.

Marienkrönung, Detail, Flügelretabel, St. Annen-Kirche, St. Annen, Kreis Dithmarschen (c) Jutta Petri

Diese Bildsprache ist unserer gegenwärtigen Wirklichkeit fremd. Sie ist ein Fenster zu einer anderen, längst vergangenen Welt: Wir sind eingeladen zu verstehen, was es mit dieser Marienkrönung auf sich hat. Doch ist es nicht nur eine Einladung, die das Werk ausspricht, sondern auch eine dringende Bitte: Ein Bild braucht eine Betrachter*in, sonst wirkt es nicht. Es benötigt Resonanz, sonst ist es nicht ...

Marienkrönung, Detail, Maria-Magdalenen-Kirche, Bad Bramstedt (c) SauckeFoto

Die mittelalterliche Bildsprache ist in vieler Hinsicht eine Fremd-Sprache. Manchmal heißt es auch hier: 'Vokabeln' lernen. So etwa bei der Marienkrönung.
An welchen Merkmalen ist eine sogenannte Marienkrönung zu erkennen? Was ist zu sehen?
Eine weibliche und eine männliche Figur sitzen gemeinsam oder getrennt auf einer Bank. Sie tragen Kronen auf den Köpfen und sind damit als König und Königin ausgewiesen. In der Malerei tragen sie Heiligenscheine um die Köpfe herum. Dadurch wird verdeutlicht: Es handelt sich hier nicht um weltliche Herrschende, sondern um himmlische. Im Christentum kommen für diese Rolle nur zwei biblische Figuren infrage: Christus und Maria.

Flügelretabel, St. Annen-Kirche, St. Annen, Kreis Dithmarschen (c) Jutta Petri

Maria hat die Hände zum Gebet zusammengelegt oder vor der Brust gekreuzt. Ihr Blick ist gesenkt. Christus hat seine rechte Hand zum Segensgestus erhoben. Aus diesem Grund wird das Bildmotiv auch als Segnung Marias bezeichnet.

Seltener ist eine tatsächliche Krönungsszene zu sehen: Christus setzt Maria die Krone auf den Kopf und hält ein Zepter als weiteres Zeichen der Königswürde in der Hand.

Beide Varianten zeigen Maria und Christus als Herrscher und Herrscherin des Himmels. Diese Szene spielt sich nicht in einem realen Raum ab. Der dargestellte König ist der nach seinem Tod auferstandene und in den Himmel aufgefahrene Christus. Er ist nicht mehr der Wanderprediger Jesus, der den Menschen die göttliche Botschaft verkündete.
Diejenigen Menschen, die ihm glaubten, ihn auf seinen Wanderungen begleiteten und nach seinem Tod seine Botschaft weitertrugen, sind häufig neben einer Marienkrönung zu sehen: Die zwölf Apostel. Sie stehen dort als Repräsentanten der frühen Kirche. Sie bilden die 'Gemeinschaft der Heiligen'.

Sogenannte trinitarische Marienkrönung, St. Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) Jutta Petri

Im Laufe des 15. Jahrhunderts setzte sich auch in Norddeutschland eine Variante der Marienkrönung durch: Die prächtigen Flügelretabel zeigen nun nicht mehr die Krönung Marias beziehungsweise ihre Segnung durch Christus, sondern durch Christus und Gottvater. Christus und Gott thronen auf gleicher Höhe. Zwischen ihnen kniet Maria. Sie hat den Blick gesenkt. Ihre Haltung ist den Betrachter*innen zugewandt. Christus und Gott halten über ihrem Kopf die Krone. Hier handelt es sich also um eine 'echte' Krönung.
Eine solche Darstellung wird trinitarische Marienkrönung genannt. 'Trinitiarsich' bedeutet, dass die Auszeichnung Marias durch die Trinität - die Einheit von Gott, Christus und dem Heiligen Geist dargestellt als Taube, vorgenommen wird. Oft habe sich jedoch die kleinen geschnitzten Tauben nicht erhalten. Sie sind vermutlich schlichtweg verloren gegangen.

Flügelretabel, St. Peter und Pauls Kirche, Teterow, Landkreis Rostock (c) Jutta Petri

Eine Frau mit dem Namen Maria wird in der Bibel erwähnt. Sie wird als Mutter Jesu bezeichnet. Der Evangelist Lukas erzählt recht ausführlich aus ihrem Leben. Er berichtet von der Begegnung der noch sehr jungen Maria mit einem Engel: Ihr wird die Geburt ihres Sohnes ankündigt, der gleichzeitig der Sohn Gottes ist.

Die Erzählung von einer jungfräulichen Geburt eines Götterkindes steht in der uralten Tradition orientalischer Religionen. Aber diese wundersame Erzählung reicht nicht aus, um die Bedeutung der Marienkrönung zu erklären. Die Texte der Bibel erwähnen eine solche Krönung der Mutter Jesu nicht. Wir müssen also weiter gucken und nach Bezügen suchen, die eine Deutung Marias als Königin nahe legen.

Hier erfahren Sie wie die junge Frau auf die überraschende Nachricht des Engels reagiert hat und welche Folge diese Begegung für sie und die Welt hatte.

Marienkrönung, Detail, Fragment eines Flügelretabels, Ev. Kirche, Laase, Landkreis Rostock (c) Jutta Petri

Für die Entwicklung des Motivs der Marienkrönung sind mehrere biblische Texte von Bedeutung. Sie wurden jedoch erst nachträglich auf Maria hin gedeutet. Viele Jahrhunderte haben sich Geistliche mit der Rolle der Mutter Gottes in der christlichen Heilsgeschichte beschäftigt. Dabei rückten verschiedenste Bibeltexte in ihr Blickfeld.
Zu diesen Texten zählt das Hohelied des Königs Salomon. Dies ist eine Sammlung von Liebesgedichten, deren erotischen Anspielungen eine echte Herausforderung für die früh– und hochmittelalterlichen Geistlichen darstellten, die zurückgezogen in Klöstern und Kathedralschulen lebten: Wie konnten diese Texte christlich interpretiert werden? Wie konnten sie in Bezug zur göttlichen Botschaft gesetzt werden?

Hier gelangen Sie zum Bibeltext: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU84/SNG.1/Hoheslied-1

Marienkrönung, Predella des Flügelretabels, Ev. Kirche, Rethwisch, Landkreis Rostock (c) Jutta Petri

Die Interpretation des Hohelieds spielt eine wichtige Rolle beim Verständnis des geheimnisvollen Bildmotivs: Ihr zufolge ist der Bräutigam Jesus Christus. Die Hochzeit wurde als Symbol einer geistlichen Verbindung verstanden: Christus geht mit seiner Braut eine geistliche, eine mystische Verbindung ein. Die Segnung ist eine solche innige Verbindung. Sie kann im übertragenen Sinne auch als eine Krönung verstanden werden - als Krönung mit der Krone des Lebens.

Wer aber ist diese Braut? Manche Gelehrte deuteten sie als menschliche Seele, manche als Kirche. Im Laufe des Mittelalters kam eine weitere Deutung dazu, die die beiden vorhergehenden mit einschloss: Die Braut des Hohelieds ist Maria, die Mutter Gottes. Nur sie konnte in ihrer besonderen Rolle sowohl die menschliche Seele als auch die Kirche symbolisch verkörpern.

 

Madonna auf der Mondsichel, Marienkirche, Gudow, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) Jutta Petri

Die Deutung des Brautpaares als Jesus und Maria setzt sich im mittelalterlichen Glaubensverständnis mehr und mehr durch. Maria als eine Verkörperung der Kirche zu verstehen, ist allerdings schon eine sehr alte Vorstellung: Maria empfängt den Sohn Gottes in ihrem Leib und bringt ihn zur Welt. Sie wird als Gefäß Gottes verstanden.
Die Epoche der Romanik hat für diesen Glaubenssatz eine einleuchtende bildlichen Darstellung gefunden: Die thronende Mutter Gottes mit dem Christuskind auf dem Schoß. Diese für das frühe und hohe Mittelalter typische Mariendarstellung wurde in der Gotik durch die stehende Marienfigur abgelöst. Sie trägt das Kind auf ihrem Arm. Die liebevolle Mutter-Kind-Beziehung tritt nun in den Vordergrund.
Eine wunderschöne thronende Madonna aus dem 13. Jahrhundert hat sich in der Kirche in Laase, Landkreis Rostock erhalten. Hier erfahren Sie mehr über diese beeindruckende Skluptur.

Marienkrönung, Wandmalerei, St. Nicolai-Kirche, Mölln, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) Jutta Petri

In der St. Nicolai-Kirche in Mölln, Kreis Herzogtum Lauenburg, sehen wir eine Krönung Mariens. Die Handlung ist auf ein Minimum an Bewegung reduziert: Christus überreicht Maria das Zepter und setzt ihr mit einer Geste, die gleichzeitig ein Segensgestus ist, die Krone auf den Kopf. Maria nimmt mit leicht geneigtem Kopf das Zepter entgegen, ebenso Krone und Segen.

In diesen kleinen Gesten liegt ein Maximum an Bedeutung: Die Kirche erhält ihre Macht direkt aus der Hand Christi. Sie neigt sich vor seiner Macht. Die Handlung symbolisiert einen Rechtsakt.

Haben Sie Lust bekommen auf einen Ausflug in die Möllner St. Nicolai-Kirche? Hier erfahren Sie mehr über die beeindruckenden Wandmalerein des 13. Jahrhunderts.

 

Flügelretabel, St. Johanniskirche, Malchin, Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (c) Jutta Petri

Maria ist nach biblischem Zeugnis die natürliche Mutter Jesu. In der Darstellung der Marienkrönung sitzt sie neben ihrem Sohn auferstandenen Sohn im Himmel. Beide sind gleichaltrig dargestellt. Das ist merkwürdig!
Der Bibel zufolge starb Jesus im Alter von 33 Jahren. Vom Tod seiner Mutter erfahren wir nichts. Doch die zahlreichen nicht biblischen Texte und Legenden, die sich bemühen, die außerordentliche Bedeutung Marias für die christliche Heilsgeschichte zu begründen, erzählen von ihrem Tod. Sie starb im hohen Alter im Kreis der Apostel. So heißt es.

Die Szene der Krönung/Segnung Mariens findet also in einem nicht realen, in einem transzendenten Raum statt, in dem Alter und Tod aufgehoben sind. Dieser Raum ist das von den Christen erwartete Reich Gottes, das himmlische Jerusalem. Erst mit dem Glauben an die Auferstehung und an das ewige Reich Gottes bekommen die Herrschaftszeichen Bedeutung für Maria und Jesus Christus. Sie sitzen gemeinsam auf einer Thronbank: die Königin des Himmels und der Herrscher des Himmels. Für die mittelalterlichen Gläubigen war dies ein verständliches Bild für die Hoffnung auf Erlösung - und die Macht der Kirche.

Marienkrönung, Fragment eines Flügelretabels, Ev. Kirche Laase, Landkreis Rostock (c) Jutta Petri

Doch noch immer ist das Motiv der Krönung Mariens beziehungsweise ihrer Segnung nicht ausreichend erklärt. Wenn dies überhaupt möglich ist. Wie in jeder Sprache und in jeder Kultur, so gibt es auch in der mittelalterlichen Bildsprache Dinge, die sich nicht (mehr) übersetzten lassen, die sich mit den Werkzeugen unserer Kultur nicht (mehr) deuten lassen. Und so sollten wir lieber von einem weiten Feld an Bedeutungen sprechen, das weitläufig ist und zu Erkundungen einlädt.

In das Bedeutungsfeld der Marienkrönung/Segnung Mariens gehört noch ein Aspekt hinein, der bereits im Mittelalter umstritten war und zu heftigen Wortgefechten und Anfeindungen führte. Im Bildmotiv ist dieser Aspekt durch die Gleichrangigkeit von Maria und Christus dargestellt. Beide Figuren sind gleich groß und sie sitzen auf gleicher Höhe. Das ist kein Zufall und hat theologisch weitreichende Konsequenzen: Maria ist offenbar wie der Sohn Gottes von den Toten auferstanden und thront nun im Himmel. Was wir nicht sehen können ist, ob sie, wie Christus leib-haftig in den Himmel aufgefahren ist, wie es die biblischen Texte erzählen, oder ob es ihre Seele ist, die dort als Himmelkönigin thront.
Das aber ist ein gewaltiger Unterschied!

Flügelretabel mit Marienkrönung, St. Peter- und Paulskirche, Teterow, Landkreis Rostock (c) Jutta Petri

Worin lag nach damaligem Glauben der Unterschied? Ganz einfach, außerordentlich kompliziert und heute nicht mehr nachvollziehbar: Jeder Mensch wird in Sünde gezeugt und in Sünde geboren. Nur Jesus Christus nicht. Er wurde dem Bericht des Evangelisten Lukas zufolge von einer Jungfrau empfangen und geboren. Ohne sexuelle Empfängnis, sogar ohne die Schmerzen der Geburt. Er ist wahrer Mensch und wahrer Gott, so heißt es. Nach seinem Tod wurde sein Grab leer aufgefunden. Von der Auferstehung und der späteren Auffahrt in den Himmel berichten die jüngsten biblischen Texte.
 

 

Marienkrönung, Detail, St. Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) Jutta Petri

Ganze Generationen von Geistlichen bemühten sich im Laufe des Mittelalters zu er- und begründen, warum ausgerechnet der jungen Frau Maria das Privileg zu kam, den Sohn Gottes zur Welt zubringen. Sie war ja schließlich auch ein 'sündiger' Mensch. Ein Erklärungsversuch bestand darin, auch Maria als sündlos zu bezeichnen. Nun fiel das Augenmerk auf ihre Mutter ... War Maria ebenso wie Jesus Christus ohne die 'Sünde' des Geschlechtsverkehrs empfangen worden? Ja! - meinten die einen. Nein! Niemals! - die anderen.
Abseits der Auseinandersetzungen um diesen strittigen Punkt, blühte im späten Mittelalter der Kult um die Heilige Anna auf. Sie soll Marias Mutter gewesen sein und ihre Tochter unter ähnlich geheimnisvollen Umständen empfangen haben wie diese Jesus Christus. So erzählt es ein uralter Text - das Protoevangelium des Jacobus.
Weit verbreitet war die Darstellung der Anna Selbdritt. Sie zeigt die 'große Mutter' Anna mit ihrer Tochter Maria und dem Jesuskind.

Anna Selbdritt (dritte Figur von links), Flügelretabel, St. Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) Jutta Petri

Nach der Einführung der Reformation wurden Veränderungen erforderlich. Die Marienkrönung mit ihrem traditionsreichen katholischen Glaubenshintergrund war für einen evangelisch genutzten Kirchenraum nicht mehr passend.

Martin Luther kritisierte die intensive Marienfrömmigkeit seiner Zeit scharf. Einer der Grundsätze evangelischen Glaubens lautet solus Christus – allein durch Christus. Nur durch ihn kann Erlösung geschehen. Demnach kann Maria keine Miterlöserin sein und kein Heiliger Mittler zwischen Mensch und Gott. Auch dem Priester wurde durch Luther die große Bedeutung genommen, die ihm in der mittelalterlichen Kirche zu kam.

In der Dionysos Kapelle in Bennin, Landkreis Ludwigslust-Parchim, hat sich ein kleines Flügelretabel mit einer Marienkrönung erhalten. Es hat die vielen Umbrüche und Modernisierungswellen seit seiner Entstehung im 15. Jahrhundert überstanden. Die Kirchenverantwortlichen haben irgendwann einmal eine anrührende Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Marienkrönung für den evangelischen Glauben gegeben: Sie setzten das alte Altarkreuz direkt vor die 'überholten' Heiligenfiguren.

 

 

Flügelretabel, Dioysos Kapelle, Bennin, Landkreis Ludwigslust-Parchim (c) Jutta Petri