Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Ein wuchtiger Turm, ein breites Dach, ein kleines Portal - die Kirche in Nusse imponiert und irritiert. Sie liegt gegenüber des historischen Gebäudeensembles mit Pastorat und Pfarrscheune. - Eine Seltenheit in Schleswig-Holstein und immer eine Reise wert.

Die Kirchengemeinde blickt auf eine sehr lange Geschichte zurück. Erstmals wird eine Kirche im Ort Nusse 1158 erwähnt. Offenbar bestand zu diesem Zeitpunkt bereits ein Kirchenbau - vermutlich aus Holz. Mehrere Dörfer der Umgebung waren dieser Kirche zugeordnet. Sie bildeten ein Kirchspiel - einen Pfarrbezirk. Nusse gehört damit zu den ältesten Kirchspielen des Landes.

Ganz anders verhält es sich mit dem Kirchengebäude, dessen großer Turm die Besucher*innen fast ein wenig einschüchtert. Dieses Gebäude ist ein kompletter 'Neubau', der im Abstand von fast 100 Jahren in der Dorfmitte entstand. Die Geschichte dieses Gebäudes erzählt von Stürmen, Zerstörung, von Hoffnung und dem Versuch, mittelalterliche Geschichte in die Gegenwart zu übertragen. Sie sind herzlich eingeladen, dieser Geschichte zu folgen.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) Jutta Petri

Der Kirchturm nimmt fast die gesamte Westseite der Kirche ein. Nur drei kleine Sprossenfenster brechen das hohe massive Untergeschoss auf. Darunter ein Rundbogenportal, das uns einlädt, die Kirche zu betreten.
Wenn wir durch das gestufte Portal in die Kirche eintreten und die Turmvorhalle durchschreiten, öffnet sich ein unerwartet heller Raum. Weite Arkadenbögen leiten den Blick durch das elegante Kirchenschiff. Der Raum ist von einem hohen Tonnengewölbe überfangenen. Große Emporen rechts und links bieten den Kirchenbesucher*innen viel Platz. Diese Kirche - in der volkstümlichen Überlieferung "Dom" zu Nusse genannt - war mal das religiöse Zentrum einer ganzen Region. Und das nicht nur im Mittelalter.
Heute ist sie nicht nur Gottesdienstort, sondern bietet vielfältigen kulturellen Veranstalungen Raum. Die Kirche ist Spielstätte des Schleswig-Holstein Musikfestivals.

Hier gelangen Sie zur Website der Kirchengemeinde Nusse-Behlendorf.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Der hohe elegante Innenraum wurde 1839 im Stil des Spätklassizismus erbaut. Diese Kirche repräsentierte damals eine neue Zeit und ein modernes Schönheitsempfinden. Doch die Raumwirkung dieses 'neuen' Kirchenbaus war ganz anders als heute. Wir sind eingeladen, uns in diesen damaligen Kirchenbau hineinzudenken. Begleiten Sie uns doch auf dieser Spurensuche.

Was war anders? Was hat sich verändert?
Wesentlich anders war zum Beispiel die Höhe der Emporen: Ursprünglich schloss die Oberkante der Brüstung mit dem Ansatz der Arkadenbögen ab. An dieser Stelle waren sogenannten Kämpfer - ein dekoratives Element zur Betonung des Übergangs vom Pfeiler zum Bogen - eingefügt. In den unteren Bereich des Kirchenraums (auf der Höhe des Gestühls) fiel also mehr Licht ein als heute. Außerdem war über jedem Arkadenbogen ein Rundfenster in das Tonnengewölbes eingelassen. Die Raumwirkung durch das zusätzliche, seitlich und von oben einfallende Licht lässt sich heute nur noch erahnen.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

In diesem 'Neubau' erinnert nichts mehr an die lange Geschichte des Kirchspiels, an seine Ursprünge im 12. Jahrhundert. Nichts erinnert an den ersten steinernen Kirchenbau, der vermutlich im 13. Jahrhundert entstand. Nichts erinnert an die mittelalterliche Ausstattung der Kirche: die Altäre und ihre Aufsätze, die vergoldeten Bildtafeln, die Heiligenskulpturen. Nichts erinnert an die Umbrüche der Reformationszeit, als der erste evangelische Pastor in Nusse predigte - auf einer neuen Kanzel, die vielleicht zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstand.
Diese Kirche entspricht einem völlig anderen Schönheitsempfinden als die zahlreichen mittelalterlichen Dorfkirchen in Norddeutschland.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Bei genauerem Hinsehen stoßen wir allerdings auf Überreste der alten Kirche und wir können auch ihr Aussehen rekonstruieren.
Die mittelalterliche Kirche wurde während des verheerenden Dorfbrandes im Jahr 1821 schwer beschädigt. Wenige Jahre später stürzte das Gewölbe über dem Chorraum ein. An eine Reparatur war nicht zu denken. Ein Neubau sollte her. Der Lübecker Stadtbaumeister Anton Spetzler entwarf dafür die Pläne. Die Hansestadt, zu deren Stadtgebiet Nusse seit dem 14. Jahrhundert gehörte, finanzierte den Umbau. Ein Bauunternehmen errichtete das Gebäude innerhalb eines Jahres. 1839 war die feierliche Einweihung. Die Kirche präsentierte sich als moderner Neubau - im Äußeren und im Inneren.

Die Gemeinde hat in einem der Seitenräume ein Museumszimmer eingerichtet, in dem einiges zu finden ist, das uns einen Eindruck von der Ausstattung der früheren Kirche gibt. Im Kirchenraum selbst ist dieses schöne Tafelbild zu sehen, das aus der Zeit um 1530 stammt. Vielleicht gehörte es einst zum Altaraufsatz der gotischen Kirche, vielleicht ist es ein Geschenk zur Einweihung der Kirche 1839. Mit Sicherheit lässt es sich nicht sagen.

Über die spannende Geschichte dieses Bildes erfahren hier mehr.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Aber auch am Äußeren der Kirche lassen sich die Spuren der alten Kirche gut erkennen. Der Stadtbaumeister Spetzler hat zwar einen Neubau veranlasst, aber er nutzte die Fundamente der alten Kirche. Die Außenmauern folgen den früheren Mauern und sie sind wie im Mittelalter üblich in Sichtbackstein ausgeführt. Der Sockel ist aus Feldsteinen gemauert. Auch die Form der Fenster erinnert an gotische Lanzettfenster. Darüber hinaus veränderte er den Chorraum der Kirche: Im Osten ließ er eine kleine dreiseitige Apsis ansetzen.
Anton Spetzler hat diese Elemente im Stil seiner Zeit neu gedacht. Es war seine Aufgabe als Baumeister der Stadt Lübeck, das Stadtbild zeitgemäß weiter zu entwickeln. Dies tat er auch in der Exklave Nusse und überformte die bauchtechnischen und stilistischen Übernahmen aus dem Mittelalter im Stil des Klassizismus. So hat er zum Beispiel in die Mittelschiffswände über den flachen Dächern der Seitenschiffe die bereits erwähnten runden Fenster eingefügt.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Spetzler verzichtete auf einen Turm! Mit dem hatte es wohl in der Geschichte der Kirche seit dem 17. Jahrhundert stets Probleme gegeben: Sturm- und Blitzschäden hatten zahlreiche Instandsetzungsarbeiten und Um- und Neubauten erforderlich gemacht. Da schien es möglicherweise ratsam zu sein, zunächst von einem Turm abzusehen. In der Weiheurkunde der Kirche, die 1839 im Altar eingemauert wurde, heißt es, man hoffe, spätere Generationen würden wieder einen Turm bauen. Und das taten sie! In den Jahren 1914 und 1915 wurde die Kirche abermals umgebaut - und erhielt den heutigen Turm.
 

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Dieser Umbau hat den Charakter des Gebäudes stark verändert: Aus dem klassizistischen Baukörper mit dem schmalen erhöhten Mittelschiff, dem flachen Dreiecksgiebel, den leicht zurückspringenden, flachgedeckten Seitenschiffen und den runden Fensteröffnungen ist ein wuchtiger, an mittelalterliche Dorfkirchen erinnernder Bau geworden.
Für diesen Umbau war wieder ein Lübecker verantwortlich: Carl Mühlenpfordt. Er war seit 1910 Baurat der Hansestadt und damit verantwortlich für Um- und Neubauten im Stadtgebiet. Carl Mühlenpfordt gehörte der sogenannten Reformarchitektur an. Diese Architekturströmung nahm regionale Bautraditionen zum Beispiel aus dem Mittelalter, auf und übersetzte sie in eine damals moderne Formsprache.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg links: nach 1839, rechts: nach 1915 (c) JP

Die breitgelagerte nur von wenigen Fenstern durchbrochene Turmfassade mit den schmalen Wandvorlagen im Glockengeschoss und der dekorativen Backsteinmauerung ist Ausdruck dieses Versuchs, Tradition und Moderne miteinander zu verbinden.
Mühlenpfordt veränderte außerdem die Dachform. Statt der unterschiedlich hohen Dächer von Mittel- und Seitenschiffen, ließ er ein alles übergreifendes Satteldach bauen, das an die großen Dachstühle mittelalterlicher Dorfkirchen erinnert. Die klassizistischen Rundfenster blieben allerdings erhalten. In der Zeichnung sind kleine Gauben erkennbar.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Der Innenraum zeigt auch einige Spuren des Umbaus: Auf dem Altar erhebt sich eine große hölzerne Wand, in der die Kanzel eingebaut ist. Dieser sogenannte Kanzelaltar ist ein besonderes Ausstattungsstück evangelischer Kirchen. Er ersetzt die alte, vermutlich beim Einsturz der Gewölbe zerstörte Kanzel.
Dieser Kanzelaltar stand nach den Plänen Spetzlers in der kleinen dreiseitigen Apsis am östlichen Ende des Raumes. Damals umfloss das durch die großen Ostfenster einfallende Licht den Altar. Auf einer alten Fotografie ist zu erkennen, wie sich die Form des Altares im leuchtenden Morgenlicht aufzulösen scheint. Der alte Stadtbaumeister Spetzler verstand es, mit dem Licht zu spielen und den Kircheninnenraum als heiligen Ort zu inszenieren.

1915 wurde der Kanzelaltar in den Kirchenraum vorgezogen und die seitlichen Durchgänge verschlossen. Der Lichteinfall war unterbrochen. Eine hölzerne Wand erhebt sich seitdem neben dem Altar und verbirgt das Licht.
In dieser Zeit wurde auch der Bogen über dem Kanzelaltar mit Ornamenten bemalt und der schöne Sternenhimmel im Gewölbe über dem Altar entstand.

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

1915 wurden die Emporen niedriger gesetzt und auf der Turmseite zwei Räume vom Kirchenraum abgetrennt. Der Raum wirkt nun 'gedrungener' und dunkler, als es ursprünglich beabsichtigt war. Doch wir dürfen nicht übersehen: Mühlenpfordt hatte die klassizistischen Rundfenster und damit den zusätzlichen Lichteinfall von oben beibehalten. Er hatte für sie sogar extra Gauben in das große Satteldach einbauen lassen. Sein Lichtkonzept für den eleganten Raum war anders, als wir es heute wahrnehmen. Die Rundfenster sind erst in den 1950er-Jahren zugesetzt worden. Schade!

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg

Auch die wunderbaren Glasfenster sind eine Zutat des frühen 20. Jahrhunderts. Sie passen sich in die elegante Form der Fensteröffnungen ein. Wie schade, dass diese Fenster durch die Emporen nicht vollständig sichtbar sind.
Emporen wurden nach der Einführung der Reformation in die meisten Kirchen eingebaut, denn sie sollten die anwachsende Zahl von Kirchenbesucher*innen aufnehmen. Sie sind auch aus klassizistischen Kirchengebäuden nicht wegzudenken. Häufig sind sie bemalt und bilden mit ihrer Bilderfülle einen echten Blickfang.

Die Kirche der Gemeinde Nusse hat in ihrer langen Geschichte massive Veränderungen erfahren. Durch die Zeiten hindurch haben die Menschen den Kirchenbau ihren Ansprüchen an einen religiösen Ort und ihrem Schönheitsempfinden angepasst. Machmal kamen Stürme, mal eine Brandkatastrophe, mal bauliche Mängel  ihrem Willen nach Veränderung 'zu Hilfe'. Sie bauten um und neu und um und hielten ihre Kirche damit lebendig. Wie schön, dass es so bleibt!

Im Wandel - Die Kirche in Nusse / Ev. Kirche, 23896 Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP