Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Altaraufsatz, St. Annen-Kirche, St. Annen, Kreis Dithmarschen (c) JP

Im Mittelalter verstanden sich Maler und Bildhauer nicht als Künstler, sondern als Handwerker. Ihr Ansehen in der streng gegliederten mittelalterlichen Gesellschaft war nicht sehr hoch. Von künstlerischen 'Genies' sprach damals niemand.
Sie arbeiteten als Lehrlinge, Gesellen oder ausgelernten Mitarbeitern in den Maler- und Bildschnitzerwerkstätten der Städte. Sie kopierten Bildvorlagen und arbeiteten nach der Vorgabe des Meisters. - Vielleicht fügte der eine oder andere eigene Ideen in die Bildkomposition ein.

An dieser Stelle erhalten Sie eine kurzen Einblick in das Handwerk der Bildschnitzer. Vertiefen können Sie diesen Einblick hier: Werktechniken in Geschichte und Gegenwart - Bildschnitzerei.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Flügelretabel, Ev. Kirche, Rethwisch, Landkreis Rostock (c) JP

Die Handwerker kannten die Geschichten, die erzählt wurden: Die Geschichten von Jesus Christus, von Maria, vom Triumph des Lebens über den Tod. Sie kannten die Geschichten vom starken Drachentöter, der klugen Katharina, dem großzügigen Martin und den anderen Heiligen, die christliche Werte in die Welt hineintrugen.
Diese bunten Bilder sind die einzigen, die die Menschen im Mittelalter zu sehen bekamen. Die Kirche war ein Raum voller Bilder, voller Geschichten. Ein Raum, prall gefüllt mit Gefühlen und Empfindungen: Freude und Trauer, Mitleid und Hoffnung. Die Bilder sollten belehren und Gefühle erzeugen.
Die Bildschnitzer und Maler spielten auf dieser Klaviatur und zogen die Betrachter in den Bann ihrer Bilder. Sie waren Meister ihres Fachs.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Flügelretabel, St. Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP

Es ist faszinierend zu beobachten, wie es den Bildschnitzern gelang, dramatische Szenen auf kleinstem Raum darzustellen. Nur wenige Zentimeter Tiefe stehen ihnen zur Verfügung, um eine Welt von Helden und Heiligen, Tod und Erlösung erstehen zu lassen. Kein Arm, kein Kopf darf zu weit hervorkragen, keine Figur zu sehr ausschreiten. - Die Flügel der mächtigen Altaraufätze schließen sich knarzend über allem.
Die Figuren müssen in den Rahmen passen. Diese Herausforderung ist Alltag für die Bildschnitzer. Sie kennen Kniffs und Tricks, den schmalen Raum zu erweitern, zum Beispiel, in dem sie die Figuren hintereinander in die Höhe staffeln.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Flügelretabel, halbgeschlossen, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP

Die prächtigen Flügelretabel des späten Mittelalters beeindrucken mit ihrer Bildfülle, den vergoldeten Figuren und bunten Tafelbildern.
In der Regel sehen wir heute die prunkvolle Festtagsseite mit ihren geschnitzten und vergoldeten Reliefs. Diese ist heute in jeder Kirche, jedem Museum die 'Normalansicht'. Die schweren Flügel der Altaraufsätze werden in der Regel nicht mehr bewegt. Zu groß ist die Gefahr, dass die jahrhundertealte Malerei durch die Bewegung der Flügel abplatzt.
Im Mittelalter aber war die Arbeit der Bildschnitzer nur an besonderen Festtagen zu sehen. An den gewöhnlichen Wochentagen und in der Fastenzeit blieben die Flügel geschlossen. Zu sehen waren dann gemalte Heiligenbilder.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Flügelretabel, Demern, Landkreis Nordwestmecklenburg (c) JP

Die Arbeit der Bildschnitzer schmückte die Kirche nicht nur an den hohen Festtagen. Zahllose Heiligenfiguren befanden sich in den Kirchenräumen und dienten den Gläubigen Tag für Tag bei Gebet und Andacht als Gegenüber. Die Bilder der Bildschnitzer repräsentierten die himmlischen 'Ansprechpartner*innen'.
Dennoch besaßen diese Handwerker im sozialen Gefüge der Städte keinen besonderen Status. Sie mussten sich Ansehen und Wohlstand durch qualitätvolle Arbeit hart erarbeiten und nicht zuletzt auch durch kluges wirtschaftliches und gesellschaftliches Agieren.
Die heute namentlich bekannten Bildschnitzer des späten Mittelalters waren häufig erfolgreiche Werkstattleiter mit Kontakten zur wirtschaftlichen und politischen Elite des Ostseeraumes.
In der Hierarchie der Künste stand über den Bildschnitzern der Fassmaler. In dessen Werkstatt erhielten die Holzfiguren ihre wirkungsvollen Bemalungen.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Flügelretabel, Ev. Kirche, Rethwisch, Landkreis Rostock (c) JP

Bis weit ins 15. Jahrhundert hinein war die Schnitzarbeit ganz auf die nachfolgende Vergoldung und Bemalung, die sogenannte Fassung, hin gedacht. Das Holz war lediglich die plastische Grundlage. Es sollte nach endgültiger Fertigstellung des Werkstückes nicht mehr zu sehen sein.
Die flachen Reliefs der Flügelretabel des 14. Jahrhunderts sehen bei intakter Vergoldung auch heute noch aus, als wären sie aus massivem Gold getrieben. Mit Blau, Rot und Grün wurden an den Gewandinnenseiten der Figuren farbliche Akzente gesetzt. Der Farbkanon erinnert an Goldschmiedearbeiten mit Edelsteineinlagen.

Im laufe des 15. Jahrhunderts lösten sich die Figuren dann zunehmend vom Goldgrund ab. Sie wurden plastischer. Die Gefache der Flügelretabel entwickelten sich zu kleinen Bühnen, auf denen wirklichkeitsnah Szenen der biblischen Geschichten und Heiligenlegenden aufgeführt wurden. Die Arbeit der Bildschnitzer trat aus ihrer Funktion als Trägerin der Vergoldung heraus und wurde ein selbstständiges Medium der Bilderzählung.
 

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Flügelretabel, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP

Die Gesichter der Heiligen erhalten im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmend individuelle Züge. Es sind aber vor allem die männlichen Heiligen und die Apostel, die mit Charakterköpfen ausgestattet sind. Sie haben markante Nasen und hervortretende Wangenknochen.
Die Gesichtszüge der weiblichen Heiligen sind dagegen weiterhin weich und ebenmäßig, die Münder klein und die Köpfe schmal. Oft sind sie kaum von einander zu unterscheiden.
Die in Hautton (Inkarnat) bemalten Gesichter und Hände setzen sich von den vergoldeten Gewändern ab, die in dramatischen Wirbeln um die Körper der Figuren herum flattern.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Ein Kunsttischler bei der Arbeit (c) JP

Jede Bildschnitzer*in hat seine eigene Handschrift. Das war im Mittelalter nicht anders als heute. Während wir heute von Kunsttischlern und Bildhauern sprechen und damit den individuellen Anteil künstlerischer Gestaltung betonen, folgten die mittelalterlichen Bildschnitzer sehr viel stärker den handwerklichen Traditionen ihrer Zeit. Sie waren Handwerker und stellten kirchliche Gebrauchsgegenstände her.
Doch es sind die Hände von Personen, die dieses Handwerk ausübten. Auch wenn wir in den meisten Fällen ihre Namen nicht mehr kennen, die Spuren der Hände, die die Werkzeuge führten, sind heute noch sichtbar.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Flügelretabel, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP

Die Bildschnitzer arbeiteten nach gezeichneten Vorlagen oder bekannten Werken aus ihrem Umfeld. Sie kopierten und erweiterten bekannte Bildfindungen. Nicht die 'geniale' künstlerische Erfindung war das Ziel ihrer Arbeit, sondern ein für die Gläubigen lesbares Bild. Es sollte bekannte Inhalte verständlich darstellen und Gewissheit in Glaubensfragen bieten.

Der Bildschnitzer des Eixener Retabels nutzte für die Darstellung der Anna Selbdritt (rechts im Bild) zwei verschiedene Vorlagen. Und so kommt es, dass die heilige Anna zwar aufrecht neben ihrer etwas kleineren Tochter Maria (mit dem Kind) steht, die viel zu kurzen Beine mit den vorgeschobenen Knien aber den Eindruck erwecken, als würde sie sitzen.

Alle Bildschnitzer, deren Namen in die Kunstgeschichte eingegangen sind, haben sich allerdings ein stückweit von den Traditionen ihrer Zeit gelöst. Sie entwickelten eigenständige Motive und Bildformen, fanden eine neue Bildsprache und inspirierten damit nachfolgende Generationen.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Evangelist von der Kanzeltür, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP

Mit der Einführung der Reformation brach die Nachfrage nach gemalten und geschnitzten Heiligenbildern zusammen. Nicht nur die Bildschnitzer gerieten daraufhin in eine kritische wirtschaftliche Situation. Sie mussten sich umstellen und allmählich eine neue Bildsprache entwickeln. Ein 'Verkaufsschlager' wurde schließlich die Kanzel, die für den evangelischen Predigtgottesdienst unerlässlich war. Kanzeln wurden für fast alle Kirchenräume neu gebaut und mit mehr oder weniger Schnitzwerk verziert.
Auch Altaraufsätze wurden im 17. Jahrhundert wieder vermehrt in Auftrag gegeben. Doch das ist eine andere Geschichte.

Einsteigen - Hands on! Bildschnitzerei / Flügelretabel, Georgskirche, Eixen, Landkreis Vorpommern-Rügen (c) JP