In dieser Vertiefung werfen wir einen Blick auf die Spuren, die die Werkzeuge der mittelalterlichen Bildschnitzer auf den Skulpturen hinterlassen haben. Sie führen uns direkt zu den Händen, die diese Werkzeuge führten - ihren Stil und ihre handwerklichen Traditionen.
Zu dieser Vertiefung gibt es eine Broschüre, in der Sie das Bildschnitzerhandwerk anhand von Werkstücken in Dorf- und Stadtkirchen der Nordkirche beschrieben finden Werktechniken in Geschichte und Gegenwart, Teil 1.
Ein besonderer Genuss: Sie können sich die Präsentation (PDF) auch vorlesen lassen. Prüfen Sie Ihre PDF-App (PC, Smartphone,Tablet) auf eine entsprechende Vorlesefunktion.
Für das Verständnis der Werktechniken, die bei der Herstellung von Skulpturen und Altaraufsätzen angewendet wurden, ist es hilfreich, wenn die Werkstücke etwas 'lädiert' sind. An den Bruchstellen sind besonders aufschlussreiche Beobachtungen möglich. Um den mittelalterlichen Bildschnitzern über die Schulter schauen zu können und einen Einblick in ihre handwerklichen Techniken zu bekommen, ist es sogar besonders hilfreich, wenn das Werk nur noch eine 'Ruine' ist, wie zum Beispiel das Flügelretabel in der St. Annen-Kirche in St. Annen, Kreis Dithmarschen. Es hat seine einstmals farbige Bemalung vollständig verloren. Die Holzkerne liegen offen zu Tage und lassen die schnitzende Hand und die Werkzeuge erkennen.
Über das alte Werkstück in der Kirche in St. Annen und die Kirche selbst erfahren Sie hier mehr.
Fast alle mittelalterlichen Holzskulpturen haben über die Jahrhunderte hinweg ihr Erscheinungsbild stark verändert. Ursprünglich waren sie alle farbig gefasst (bemalt). Im Laufe der Jahrhunderte ist diese Fassung in der Regel verlorengegangen. Die Ursache liegt in den natürliche Schwankungen des Raumklimas. Aber auch unwillkürliche oder absichtliche Beschädigungen und Überarbeitungen haben dazu beigetragen, dass heute kaum noch originale mittelalterliche Fassungen erhalten sind.
So bedauerlich diese Farbverluste sind — wir haben dadurch die Möglichkeit den Bildschnitzern und Tischlern auf die Finger zu schauen. Die Spuren, die ihre Werkzeuge im Holz hinterlassen haben, sind nun sichtbar.
Große Retabel wie etwa das in der St. Peter und Pauls Kirche in Teterow, Landkreis Rostock sind in einer großen Bildschnitzerwerkstatt hergestellt worden. Es ist davon auszugehen, dass mehrere Schnitzer daran gearbeitet haben. Über die Anzahl der Mitarbeiter, die Arbeitsorganisation in den Werkstätten sowie die Auftragsvergabe sind wir kaum informiert. Nur wenige schriftliche Aufzeichnungen geben darüber Auskunft. Aber die Bildwerke selbst enthalten vielfältige Informationen.
Über den Herstellungsprozess von Flügelretabeln erfahren Sie mehr in der Vertiefung Punzen, Beitel, Seelenheil. Kunst und Handwerk im späten Mittelalter.
Die Figuren der Flügelretabel sind passgenau für den Schrein gearbeitet. Leider ist bei dem Flügelretabel in St. Annen nicht nur die Farbfassung im Laufe der Zeit verloren gegangen, auch die 'Innenarchitektur' des Retabels fehlt vollständig. Wir müssen uns über den Figuren eine breite Zone mit Baldachinen vorstellen, von denen jeder eine Figur überfängt. Zwischen den Figuren befanden sich kleine Strebepfeiler oder Säulen. Jede Figur stand also in einem eigenen Gefach. Die beteiligten Handwerker, Bildschnitzer und Kontormacher (Tischler), mussten sich demnach zu den Maßen genau abgesprochen haben oder aber es lagen Zeichnungen mit Maßangaben vor.
Die Figuren sind flach gearbeitet. Die Bewegung der Arme und Hände wird wie bei einer Zeichnung oder einem Gemälde in die Fläche hinein geschrieben. Anders als in der nachfolgenden Epoche der Renaissance, die der Künstler dem Ideal griechischer und römischer Skulpturen folgten, wurden in der mittelalterlichen Kunst die Körper nicht betont. Sie verschwinden unter den Faltenwürfen der Gewänder. Diese sind wie Ornamente über die Körper der Figuren gelegt.
Den Bildschnitzern steht in den flachen Kastenschreinen und -flügeln nur wenig Raum für die Figuren zur Verfügung. Ihnen gelingt es dennoch den Eindruck von Körperlichkeit und Tiefenräumlichkeit zu erzeugen.
Bildschnitzer erwarben die erforderlichen Kenntnisse über Material, Schnitztechniken und die Formensprache ihrer Zeit in ihrer Lehrzeit. An die Lehrlingsjahre schloss sich eine Wanderzeit an, die ihnen Einblicke in andere Werkstatttraditionen öffneten. Den Sprung zum Meister machten nur wenige. Dafür waren nicht nur ausreichende handwerkliche Kenntnisse erforderlich, sondern auch finanzielle Mittel und die Möglichkeit zur Übernahme einer Werkstatt. Viele Bildschnitzer arbeiteten daher vermutlich im Rahmen von Werkverträgen in den städtischen Werkstätten an größeren Aufträgen.
Durch beruflich und wirtschaftlich bedingte Migration, 'wanderten' Stil– und Schnitztraditionen quer durch Europa.
Die Figuren sind, wie der größte Teil der in Norddeutschland erhaltenen Holzskulpturen, aus Eichenholz. Es ist das witterungsbeständigste der einheimischen Hölzer und weniger anfällig für einen Anobienbefall (Holzwurm) als die Weichholzarten.
In den Statuten des Amtes der Lübecker Maler und Glaser von 1425 ist für „geistliche Werke“ (religiöse Kunst) ausschließlich die Verwendung von Eichenholz erlaubt.
Die Widerstandsfähigkeit gegen Holzschädlinge, eine geringe Anfälligkeit gegenüber klimatischen Schwankungen sowie das Fehlen von Astansätzen zeichnet gutes Holz auch heute noch aus.
Diese Qualitätsmerkmale sind wichtig für die Holzskulptur: Spannungsrisse im Holz schlagen sofort durch die Grundierung der Farbfassung bis an die Oberfläche durch.
Astansätze aber auch während des Trockungsprozesses entstandene Risse wurden in der handwerklichen Praxis mit Leinwand abgeklebt und schließlich mit der gesamten Figur grundiert und bemalt. Die Leinwand überdeckte Unebenheiten im Holz und bot durch ihre Flexibilität einen gewissen Schutz für die Farbfassung. Im Bild oben ist eine Leinwandabklebung unter der Malschicht zu erkennen.
Mit der Farbfassung erhielten die Figuren ihren eigentlichen Wert. Vergoldet und bemalt machten sie die christliche Botschaft anschaulich, boten den Menschen einen Bezugs– und Ankerpunkt für ihre Gebete, ihrer Bitte um Beistand und der gläubigen Versenkung in die Mysterien des christlichen Glaubens. Das Holz war lediglich die unsichtbare materielle Grundlage. Den Bildschnitzern kam also bei der Gestaltung der Figuren zunächst lediglich eine vorbereitende Funktion zu: Sie legten die Grundform im Holz an und arbeiteten die groben Formen der Gewandfalten, Gesichter, Frisuren und Hände aus.
Die Falten der Gewänder sind einfach geschnitzt: Der Bildschnitzer legte diese in den Grundzügen an. Der Fassmaler hat sie später durch das Auftragen des Kreidegrundes verfeinert und präzisiert. Durch die nachfolgende Vergoldung und die akzentuierende Verwendung der Farbe erhielten die Figuren schließlich ihr endgültiges Aussehen und ihre Bedeutung im Gesamtwerk des Flügelretabels.
Oft sind bei holzsichtigen Figuren die einzelnen Schnitte zu sehen, die der Bildschnitzer mit den verschiedenen Hohl- und Flacheisen gesetzt hat.
Der Bildschnitzer muss die gesamte Figur im Kopf haben, während er Schnitt für Schnitt die Bohle von der Oberfläche her abarbeitet. Er braucht ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Das Abspanen des Holzes ist im Verlauf der Maserung, also entlang der Holzfasern, am leichtesten. Allerdings besteht hier auch immer die Gefahr des unkontrollierten Ausfaserns. Dies wird verhindert, indem in kleineren Abständen Querschnitte in das Holz hineingesetzt und die Fasern getrennt werden.
Die Rundung des Armes wird zuerst angelegt. Von dort arbeitet sich der Bildschnitzer hinab zu Bauch und Untergewand. Etwas tiefer liegt der Wulst der quergelegten Schüsselfalte. Die strahlenförmig verlaufenden Gewandfalten enden am tiefsten Punkt. Hier musste das meiste Holz abgetragen werden. Deutlich zu sehen sind die kleinen Schnittflächen, aus denen der Bildschnitzer die Rundungen und Vertiefungen aufbaut.
Vor dem Schnitzen einer Gewandfalte wird die Grundform auf den Holzblock gezeichnet. Die Zeichnung gibt an, wo sich die Hochpunkte befinden sollen und wie die Falten verlaufen.
Die Zeichnung liefert dem Bildschnitzer Anhaltspunkte dafür, wo er die ersten Schnitte ansetzen soll. Bereits jetzt muss klar sein, welche Bereiche stehen bleiben sollen. Schnitzen folgt dem Motto: „Was weg ist, ist weg!“
Wir freuen uns, wenn Sie neugierig geworden sind. Hier können Sie sich die Broschüre Werktechniken in Geschichte und Gegenwart, Teil 1, Bildschnitzerei oder auch die gesamte Broschüre zu dieser Vertiefung Werktechniken in Geschichte und Gegenwart, Bildschnitzerei, Vergoldung, Verzierungstechniken herunterladen.