Vertiefen - von Anfang an / Ev. Kirche, Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

In der Kirche in Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg, hängt hoch oben an der Südwand ein altes Tafelbild. Es ist mit einem üppig verzierten goldenen Rahmen versehen. Seine Bildsprache und seine Farbigkeit wirken wie aus der Zeit gefallen: Farben und Formen entsprechen nicht unserem modernen Geschmack. Altertümlich wirkt es und ein bisschen verloren in der Monumentalität des Kirchenraumes. Es stammt aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Nusser Kirche wurde jedoch erst 1838/39 erbaut.
Über die Kirche in Nusse erfahren Sie hier mehr.

In dieser Vertiefung geht es um die Bildsprache dieses alten Tafelbildes, seine Geschichte - im Spannungsfeld von Kunst und Kirche. Im Folgenden lesen Sie einen Ausschnitt aus der Broschüre Von Anfang an. Das Verkündigungsbild in der Kirche zu Nusse. Sie können sich die vollständige Broschüre gern herunterladen.
Ein besonderer Genuss: Sie können sich die Präsentation (PDF) auch vorlesen lassen. Prüfen Sie Ihre PDF-App (PC, Smartphone,Tablet) auf eine entsprechende Vorlesefunktion.

Das Bild, um das es hier gehen soll, ist die Darstellung einer Verkündigung.
Es sagt sich so leicht: „Das ist ein Verkündigungsbild“. Doch: Woran ist eine Verkündigung eigentlich zu erkennen? Für alle diejenigen, die im christlichen Glauben aufgewachsen sind und auch selbst diesen Glauben leben, mögen diese Fragen überflüssig erscheinen. Schließlich gehört die Erzählung von der Verkündigung an Maria, zur 'Grundausstattung', dem 'Basiswissen' christlicher Religion. Doch genau hier liegt das Problem: Die christliche Bilderwelt ist nicht voraussetzungslos. Sie erklärt sich nicht selbst. Sie geht auf die Geschichten der Bibel zurück. Diese muss mensch kennen, sonst erschließen sich die Bilder nicht.

Verkündigung, Tafelbild, Ev. Kirche, Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

In der christlichen Bildsprache ist die Darstellung eines Engels und einer Frau, die in Blick und Gestik aufeinander bezogen sind, die Kurzform für die Erzählung der Verkündigung. Sie transportiert den Inhalt, die Bedeutung der Szene: Der Engel verkündet Maria, dass sie den Sohn Gottes zur Welt bringen wird.
Häufig ist die Verkündigung auf der Alltags-/Fastenseite von Altaraufsätzen des 15. und 16. Jahrhunderts dargestellt. An dieser Stelle ist die Szene nicht nur als Beginn der Lebensgeschichte Jesu zu verstehen, sondern auch als Metapher für die Verkündigung des Evangeliums, der 'frohen Botschaft', an die Gläubigen. Wie Maria ist er/sie eingeladen, der Botschaft des Engels zuzustimmen und Christus in sich zu empfangen (Inkarnation).
Das Bild in Nusse geht über die Kurzform der Szene hinaus. Es erzählt mehr als die dramatische Begegnung zwischen dem Engel Gabriel und der jungen Frau Maria. Es enthält weitere Bedeutungsebenen, die sich erst bei näherer Betrachtung erschließen.

 

Vertiefen - von Anfang an / Ev. Kirche, Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Der Maler hat einen weitverbreiteten Bildtypus der Verkündigung gewählt: die Verkündigung im Wohnraum. Hinter Maria sind Einrichtungsgegenstände einer bürgerlichen Wohnstube zu erkennen: ein Bett, eine Nische mit einem Wasserkessel und auch ein Hausaltar. Unser Blick wird über die Stufen des Fussbodens in die Tiefe des Bildraumes geleitet - direkt auf einen kleinen Hausaltar zu.
Auf dem Hausaltar steht ein für die damalige Zeit üblicher Altaraufsatz (Retabel) mit geöffneten Flügeln. Vor dem Retabel stehen zwei brennende Kerzen. Für den damaligen Betrachter war damit klar: Er ist Zeuge einer Andacht. Der Engel überbringt Maria die göttliche Botschaft im Moment des Gebets. Die Bibel oder ein Gebetbuch liegt aufgeschlagen auf ihrem Schoß. Möglicherweise waren ihre Hände bis zum Eintritt des Engels gerade noch in Gebetshaltung zusammengelegt.

 

Vertiefen - von Anfang an / Ev. Kirche, Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

In der mittelalterlichen Kunst wird Maria als junge Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen dargestellt. Sie ist das gestaltgewordene Wahre, Gute und Schöne. Ob als Adressatin der Botschaft des Engels, auf der Flucht nach Ägypten, als Trauernde unter dem Kreuz, auf ihrem Sterbebett oder als Himmelskönigin -  in all diesen Bildern wird Maria als ein Typus dargestellt — als ein überzeitlich gültiges Bild von Jugend, Schönheit und Vollkommenheit.

Vertiefen - von Anfang an / Ev. Kirche, Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Der Maler stellt die Verkündigungsszene in einem Wohnraum dar. Dieser ist mit einigen zeittypischen Ausstattungsstücken eingerichtet. Die Szene erzählt damit nicht nur von göttlichen Geschehen, sondern erhält einen zeitlichen und auch einen geographischen Ort: Der Engel verkündet seine Botschaft in der Gegenwart und sozusagen in der Nachbarschaft. Allerdings spielt sich das Ereignis in einem gehobenen städtischen Milieu ab. Maria wird nicht als Frau aus einfachen Verhältnissen dargestellt. Sie repräsentiert vielmehr eine wohlhabende bürgerliche Schicht.

 

Vertiefen - von Anfang an / Ev. Kirche, Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Der Engel trägt die Gewänder eines Priesters: eine weiße Albe und einen kostbar gewebten Goldbrokatmantel mit einer mit Edelsteinen und Perlen besetzten Schließe. In der linken Hand hält er ein Lilienzepter als Zeichen der Herrschaft Gottes. Sein rechter Arm weist in die Höhe, sein Zeigefinger deutet in den Himmel. Er hat eine ungeheuerliche Botschaft für Maria: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir!“. Dass sie sich von der Botschaft erreichen lassen wird, bereitet der Maler durch den Heiligenschein vor, der wie eine Lichterscheinung den Kopf Mariens umgibt. Sie wird die Mutter Gottes werden. Daran besteht kein Zweifel.

Vertiefen - von Anfang an / Ev. Kirche, Nusse, Kreis Herzogtum Lauenburg (c) JP

Spätmittelalterliche Tafelbilder sollte man, wenn es geht (!), möglichst aus der Nähe betrachten. Erst dann erschließt sich die Feinheit der Malerei.
In den Werkstätten bildeten sich oft spezifische handwerkliche Techniken, Farbrezepturen und Motivvorlagen heraus. Wenn sie erfolgreich waren wurden sie über Jahrzehnte genutzt und weiterentwickelt.

Künstlerische Traditionen und Innovationen, Bildmotive und Farbkompositionen breiteten sich entlang der europäischen Handelsrouten aus. Gesellen trugen sie mit sich auf ihren Wanderungen. Heiligenbilder und Altaraufsätze gelangten durch Im- und Export von Region zu Region. Die Hanse des späten Mittelalters ist ein gutes Beispiel für die Verquickung von Handel und Kunsthandwerk. Handwerker, Kaufleute und Geistliche importierten 'moderne' Bildformen und ganze Kunstwerke aus den Niederlanden und Frankreich über Köln und Westfalen in den Norden.
Die Luftperspektive, also die bläuliche Färbung entfernter Landschaften wanderte auf diese Weise im Laufe des 15. Jahrhunderts nach Norddeutschland ein und wurde vor Ort in die regionale Malerei aufgenommen. In Nusse ist sie auch zu sehen.

Möchten Sie weiterlesen? Die vollständige Broschüre finden Sie hier.

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