Drei kleine Grabsteine, verborgen unter einem großen Rhododendronstrauch, umrangt von Efeu - Löwenzahl hat sich hinzugesellt. Sie sind vom Weg aus kaum zu sehen. Ich aber suchte ein Grab ein altes Grab das mich in meiner Kindheit sehr berührte: Ein Mädchen war gestorben - kaum 17 Jahre alt. Ich ging oft an dem Grab vorbei - suchte eine Geschichte, eine Begegnung mit der Unbekannten.
Auf der Suche nach ihrem Grab fand ich ein anderes, ein noch älteres. Vergessen von der Gegenwart, geborgen in der Zeit. Auf einem der Grabsteine sind die Worte zu lesen: "Meine Zeit steht in Deinen Händen ...". Worte aus dem Psalm 36, Vers 16.
Alte Friedhöfe bewahren Erinnerungen über lange Zeit hinweg: Traditionsreiche Familiengräber und übriggebliebene Grabsteine markieren Orte, nennen Namen. Oft ist es der Zufall, der Erinnern möglich macht. Und manchmal findet sich jemand, der eine Geschichte gehört hat von einem Menschen, der diesen Namen trug.
Oder wir machen uns selbst auf die Suche - nach Geschichte, nach Geschichten ...
Die kleine Spinne spinnt derweil ihr Netz - und schweigt.
Flechten und Moose siedeln sich an auf den alten, zerbröselnden Steinen - wenn die Luft sauber genug ist. Zart und bunt umwerben sie den alten Stein, wie Blumen auf einem Grab - Hoffnung auf Leben.
Steine spielen in den Bestattungskulturen der Menschheit seit Jahrtausenden eine bedeutende Rolle: von den Steinsetzungen und Großsteingräbern der Steinzeit über detailreich behauene Sarkophage der Antike und aufwändige Marmorgrabmäler des Barock bis zu den Grabsteinen auf unseren Friedhöfen, Stein symbolisiert Dauerhaftigkeit. Er ist der Gegenentwurf zur Vergänglichkeit des menschlichen Körpers.
Jahrhundertelang suchten Menschen auch im Tod die Nähe der Kirche. Ihr Glaube bot ihnen Schutz vor der Verzweiflung angesichts allgegenwärtiger Gewalt, Krankheit, Verlust.
Der Kirchhof, ein umfriedeter Bereich um das Kirchengebäude herum, bot ihnen diese ganz reale Nähe und damit zusätzlich Hoffnung auf Erlösung.
Zunächst wurden die Toten nicht in Reihen bestattet, wie wir es von unseren Friedhöfen kennen. Es gab auch keine Markierung des Ortes der Bestattung etwa mit einem Grabstein.
Grabsteine, die den Namen des Verstorbenen nennen und seinem Körper einen erkennbaren Ort geben, sind Ausdruck einer individuellen Trauerkultur. Sie entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert. Nun werden auch jene Menschen über den Tod hinaus sichtbar, die sich kein Grab in der Kirche leisten können.
St. Andreas-Kirche, 23568 Lübeck (Schlutup)
(c) JPFriedhöfe wurden seither abseits der Kirchen und oft außerhalb der Stadtmauern eingerichtet. Das hatte hygienische Gründe: Auf den Friedhöfen und in den Kirchen wurden so viele Menschen beigesetzt, dass sozusagen 'gestapelt' werden musste. Im Mittelalter entstanden deshalb "Beinhäuser", in denen noch nicht verweste Leichenteile gelagert wurden. So wurde Platz geschaffen auf dem begehrten Gottesacker.
Auf den Friedhöfen mit ihrer geregelten Anordnung der Gräber konnte nun der Zersetzungsprozess in Ruhe und Würde stattfinden - der Mensch wieder zu Erde werden. "Aus der Erde sind wir genommen und zu Erde werden wir wieder (...)", so heißt es im christlichen Bestattungsritual.
Die Bestattung in der Kirche war viele Jahrhunderte den Geistlichen und ihren Angehörigen, dem Adel und dem reichen städtischen Bürgertum vorbehalten. Ihre Grabplatten pflasterten die Fußböden der Kirchen - und wurden über die Zeit hinweg bis zur Unkenntlichkeit abgelaufen. Aber das macht nichts. Es zählte die Gegenwart in der Kirche, der direkte Bezug zu Gott. - Je näher das Grab am Altar lag, um so besser.
Wer es sich leisten konnte, sorgte mit einer Gedenktafel (Epitaph) und sogar Gedenkaltären für langandauernde Erinnerung in der Kirchengemeinde.
"Ewig" hält aber diese Erinnerung nicht an, denn auch an den hölzernen und steinernen Epitaphien nagt der Zahn der Zeit - und manchmal auch der Holzwurm. Die Erinnerung wird zum Zufall - je weiter die Zeit voranschreitet.
Wenn möglich sorgten nachfolgende Generationen mit finanziellem Einsatz für die Bewahrung der Erinnerung an die Verstorbenen. Heute begegnen wir diesen Bemühungen in zahllosen historischen Kirchen. Epitaphien sind Teil der Erinnerungskultur in den Kirchen. Auch wenn diese Erinnerungen zufällig geworden sind und sich längst von konkreten Personen gelöst haben, sind sie mit dem Kirchengebäude verwoben.
Über Epitaphien in der Dorfkirche Behlendorf und in der Radwegekirche Friedrichshagen erfahren Sie hier mehr.
Häufig finden wir aufwendig gestaltete und verzierte Grabplatten in historischen Kirchen. Sie sind unterschiedlich gut erhalten. Grabplatten, die an den Wänden aufgestellt waren, entgingen der schleichenden Einebnung durch „Ablaufen“.
Diese Grabplatten enthalten mehr als nur die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen. Sie erzählen von ihrer gesellschaftlichen Position und ihren Tugenden. Sie präsentieren den Menschen so, wie er oder sie in Erinnerung bleiben möchte und teilen damit die christliche Hoffnung auf Ewigkeit – im Leben nach dem Tod.
Aber nicht nur diese Hoffnung prägt die Bildwelt der Grabplatten. Viele von ihnen halten uns den Spiegel unserer Vergänglichkeit direkt vor Augen, so wie diese Grabplatte. Memento mori! Bedenke, dass du sterblich bist.